Die wichtigsten Psychologen im Porträt. Christiane Schlüter

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Название Die wichtigsten Psychologen im Porträt
Автор произведения Christiane Schlüter
Жанр Общая психология
Серия marixwissen
Издательство Общая психология
Год выпуска 0
isbn 9783843802222



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1866 abgeschlossenen »Handbuch der psychologischen Optik«: Während die Physik die Wege des Reizes im Sinnesorgan nachvollzieht und die Physiologie die Empfindungen des betreffenden Nervenapparates untersucht, kommt der Psychologie eine dritte Aufgabe zu. Sie soll klären, wie die solchermaßen entstandenen Wahrnehmungen verstanden, also zu einem einheitlichen Bild gestaltet werden.

      Mit dieser Aufteilung spricht von Helmholtz der Psychologie ein eigenständiges, von den Bereichen der Physik und der Physiologie unterschiedenes Wissenschaftsgebiet zu. So bereitet er die Emanzipation der Psychologie mit vor, sichert zugleich deren Anschluss an die Naturwissenschaften und rechtfertigt nachfolgende Forschungen.

      Anekdote: Mit Studienfreunden schwor von Helmholtz im Jahr 1842 einen materialistischen Eid: Keine anderen als physikalisch-chemische oder damit vergleichbare Kräfte wollten sie im Organismus annehmen. Bislang nicht erklärte Phänomene müssten mit Hilfe der Physik und der Mathematik entschlüsselt werden. Einer dieser Freunde war Ernst Wilhelm Ritter von Brücke ( 1819–1892 ), später der wichtigste akademische Lehrer des jungen Sigmund Freud (s. Kap. 7).

      3 DAS ERSTE PSYCHOLOGISCHE LABOR

       WILHELM WUNDT

       Er verankerte das Experiment endgültig in der Psychologie und sorgte gleichzeitig für deren inhaltliche Anbindung an die Ideen- und Begriffsgeschichte seiner Zeit. Damit verhalf Wilhelm Wundt der Psychologie zu einer eigenen Methodik. Sein Leipziger Institut bildete bis nach dem Ersten Weltkrieg das Zentrum psychologischer Forschung und Lehre.

      WEG

      Wie Gustav Th. Fechner (s. Kap. 1) ist auch der 1832 in Neckarau geborene Wilhelm Wundt ein Pfarrerssohn, wie jener studiert er Medizin. Er arbeitet als Assistent bei Hermann von Helmholtz (s. Kap. 2) in Heidelberg und wird dort 1864 Professor für Anthropologie und medizinische Psychologie. Zugleich sitzt er als Abgeordneter für die bürgerlich-liberale Badische Fortschrittspartei im Badischen Landtag.

      1874 geht Wundt an die philosophische Fakultät in Zürich und im Jahr darauf nach Leipzig, in die Stadt Gustav Theodor Fechners, wo er die Universitätswohnung von Fechners akademischem Lehrer Ernst Heinrich Weber übernimmt. In Leipzig gründet Wilhelm Wundt 1879 das Institut für experimentelle Psychologie. Es ist das weltweit erste psychologische Institut überhaupt und wird zur Pilgerstätte für junge Wissenschaftler aus aller Welt. Sein Gründer finanziert es jahrelang selbst, bis es 1883/84 staatlich anerkannt wird. Das Institut gehört, wie damals üblich, zum philosophischen Lehrstuhl. Die Psychologie, einst hervorgegangen aus dem Nachdenken über die Seele, ist immer noch Teil der philosophischen Wissenschaft, und die Studenten sind hauptsächlich angehende Lehrer.

      Die »Ära Wundt« markiert jedoch einen Meilenstein auf dem Weg zur naturwissenschaftlichen Grundlegung dieser Disziplin, denn nun wird das Experiment endgültig in ihr verankert. Die Selbstbeobachtung, die typische Methode der damaligen Zeit, ist für Wundt nur unter strengen experimentellen Bedin-gungen aussagekräftig, und das heißt: wenn gemessen wird. Von Helmholtz und Fechner hatten dazu bereits einiges geleistet. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern entwirft Wundt zahlreiche Versuchsgeräte und lässt sie bauen. Aus heutiger Sicht wirken die Experimente sehr einfach: Die Versuchspersonen müssen beispielsweise Gerüche, Töne, optische Reize oder Gewichte vergleichen und ihre Empfindungen darüber mitteilen – das Bewusstsein reflektiert sich selbst. In seinen gut besuchten Vorlesungen demonstriert Wilhelm Wundt eigene Versuche, was damals nicht üblich ist.

      Dennoch bezieht er immer auch die Philosophie und andere Disziplinen in sein Denken mit ein, indem er die Ergebnisse der Experimente philosophisch begründet. Nachdem Wundt seinen Ansatz unter anderem im »Grundriss der Psychologie« (1896) niedergelegt hat, verfasst er in seinen letzten 20 Lebensjahren die zehnbändige »Völkerpsychologie«. Heute würde man sie als kulturhistorische Analyse bezeichnen. Sie hat sich nicht auf die zeitgleich in den USA entwickelte Sozialpsychologie ausgewirkt, denn experimentelle Untersuchungen sozialer Prozesse hat ihr Verfasser abgelehnt. Stattdessen verdanken ihr die Ethnologie und die Linguistik wichtige Impulse.

      Auch als Wissenschaftspolitiker nimmt Wundt Einfluss. Im Jahr 1912 protestieren Philosophiedozenten vieler Universitäten dagegen, dass immer mehr philosophische Lehrstühle mit Psychologen besetzt werden. Doch Wundt, der einen Bedeutungsverlust für seine Disziplin befürchtet, setzt sich dafür ein, dass sie – obgleich vielfach von Mathematikern und Naturwissenschaft lern betrieben – noch für Jahrzehnte an die philosophischen Fakultäten angebunden bleibt.

      Wilhelm Wundt stirbt 1920 in Großbothen bei Leipzig. Aus der Psychologiegeschichte ist er nicht wegzudenken. Durch sein Institut, das zur Keimstätte der so genannten Leipziger Schule wird, und durch seine empirischen Methoden, die über eine ganze Generation von Wissenschaftlern weiterwirken, wird die Psychologie zunehmend eigenständig – und zwar nach beiden Seiten hin: nach der philosophischen und der physiologischen.

      IDEEN

      Seit Wilhelm Wundt fragt die Psychologie, wie Sinneseindrücke erfahren und verarbeitet werden. Dabei interessiert diesen Forscher weniger die physikalische Seite, also der Weg des Reizes zum Sinnesnerv, sondern vielmehr das Problem, wie sich die Reizung des Sinnesnerven in erlebte Empfindung, in einen Bewusstseinsinhalt verwandelt. Das ist die psychologische Fragestellung, die Wundt streng gegen die physikalische abgrenzt.

      Das Erleben, das er im Experiment betrachtet, begreift Wundt als Prozess. Er fragt nicht nach einem substanzhaften Bewusstsein, das als Träger der Vorgänge dienen würde, sondern er löst das Psychische ganz in diesem Prozess auf. Das Geschehen, in dem sich eine Empfindung in einen Bewusstseinsinhalt verwandelt, nennt er Apperzeption, vom lateinischen adpercipere – hinzuwahrnehmen. Der Begriff ist seit Gottfried W. Leibniz (1646–1716) bekannt. In der Apperzeption ordnet sich das Vorstellen, Fühlen und Wollen zur Einheit des Bewusstseins. Dieses besteht also aus ununterbrochenen Apperzeptionsvorgängen, einfachen und komplexeren.

      Wundt versteht die Apperzeption als zielgerichtete Willenshandlung, weshalb er seinen Ansatz später auch Voluntarismus (Lehre vom Willen) nennt, und macht sie zum Modell aller psychischen Prozesse. Weil sie einen schöpferischen und auf eine Synthese ausgerichteten Prozess annimmt, unterscheidet sich seine Apperzeptionstheorie von den mechanistischeren Modellen der zeitgleich forschenden klassischen Assoziationspsychologen wie Hermann Ebbinghaus (s. Kap. 5). Diese gehen von einem Zusammenschluss der psychischen Elemente aus, ohne, wie Wundt, die Einheit des Erlebens zu berücksichtigen und auf einen Willensakt zurückzuführen. Weil Wundt aber wie die Assoziationspsychologen von Bewusstseinselementen ausgeht, die es zu finden gelte, wird er letztlich doch in ihre Nähe gestellt.

      Gegen die Annahme einzelner, sich zur Einheit des Bewusstseins erst zusammenschließender Elemente wird sich dann später Wilhelm Dilthey mit seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie (s. Kap. 4) wenden. Auch die so genannte Würzburger Schule entsteht in dieser Auseinandersetzung. Ihre Protagonisten sind unter anderen der ehemalige Wundt-Schüler Oswald Külpe (1862–1915) und sein Schüler Karl Bühler (1879–1963). Die Würzburger kritisieren an Wundts Bewusstseinspsychologie, dass sie die Selbstbeobachtung auf Wahrnehmungen und Vorstellungen beschränkt, also auf anschauliche Bewusstseinsinhalte. Was aber ist mit den unanschaulichen Bewusstseinsinhalten, mit den Gedanken und spontanen Einfällen? Mit ihrem Anliegen, den unbewussten Denkvorgängen auf die Spur zu kommen, begründen die Würzburger die so genannte Denkpsychologie. Sie lassen Versuchspersonen von dem berichten, was während der Lösung von Denkaufgaben in ihrem Bewusstsein geschieht. So zeigen sie, dass das Denken nicht als assoziative Ansammlung von Bewusstseinsinhalten abläuft, sondern durch unbewusste Kräfte gelenkt und bestimmt wird, etwa durch die jeweilige Aufgabe und durch das Erkenntnisziel.

      Anekdote: