Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger

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Название Im Namen des Kindes
Автор произведения Martina Leibovici-Muhlberger
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783902862464



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nie.

      Zwei Fallgeschichten aus der Praxis, die beide eine weichenstellende Bedeutung der Scheidung der Eltern und des mit diesem Ereignis verbundenen Umgangs für die weitere Entwicklung der betroffenen Kinder demonstrieren.

      * Welchen Einfluss hätte es gehabt, wenn Claudias Eltern zu einem respektvollen Grundumgang nach der Scheidung gefunden hätten?

      * Welche Gestaltungsmöglichkeiten hätte Claudias Mutter noch für ihr Leben finden können, wenn sie die Kränkung über den Betrug und das Verlassenwerden von Claudias Vater überwinden hätte können?

      * Welchen Einfluss hätte es auf Claudia gehabt, entsprechende Lösungsstrategien vorgelebt zu bekommen und nicht in eine symbiotische Ersatzbeziehung reklamiert zu werden?

      * Wie wäre Romans Leben verlaufen, wenn sein Vater mit der dramatischen Situation des Mutterverlusts offen und mit den Kindern trauernd umgehen hätte können? Könnte Roman heute dann selber ein glücklicher Familienvater sein, statt das Fehlen von Beziehung und Familie als einzigen Pluspunkt seiner Situation zu bewerten?

      * Was wäre gewesen, wenn Romans Vater sich seine eigene Überforderung zugestehen hätte können, statt in Alkoholismus auszuweichen und sich seiner Verantwortung für die Kinder zu entziehen?

      Hypothetische Fragen, natürlich, und unmöglich zu beantworten. Doch es wird allemal deutlich, dass hier für die beteiligten Kinder viel Leid und Potenzialverlust die Konsequenzen sind, obwohl alle Betroffenen sicher nach den ihnen zur Verfügung stehenden Kräften und in vielfacher eigener Bedrängnis gehandelt haben.

      Wir haben Handlungsbedarf als Gesellschaft. Kinder wie Claudia und Roman leben auch heute unter uns. Viele Eltern brauchen in dieser schwierigen Lebensphase für sich und ihre Kinder Unterstützung, einen Transfer des bestehenden Wissens, wie wir es besser machen können, damit die Lebensgeschichten von Kindern wie Claudia und Roman sich unbeeinträchtigter fortschreiben können.

       Die Gesellschaft hat Handlungsbedarf

      * Trennung/Scheidung ist als weichenstellendes Ereignis im kindlichen Erleben zu sehen.

      * Ein Mangel an gesellschaftlichem Bewusstsein und Unterstützungsangeboten zieht häufig eine mangelhafte Bewältigung dieses Lebensphasenwechsels nach sich.

      * Für die betroffenen Kinder, die in diesen Konstellationen prägende Erfahrungen machen, kann dies eine Beeinträchtigung für die eigene Lebensgestaltung nach sich ziehen.

      4.

      Der apokalyptische Reiter – Scheidung am Horizont

      Das wirklich Herausfordernde für Kinder an der Scheidung ihrer Eltern ist, dass sie in ihrer Kindheit passiert. Auch wenn es sich für die beteiligten Erwachsenen um ihre erste Scheidung handelt, so haben sie dennoch Erfahrung in der Bewältigung früherer psychosozialer Krisen und Trennungen. Sie sind zum Zeitpunkt der Trennung/Scheidung eben Erwachsene mit ihrem vollausgebildeten Repertoire an Copingstrategien, also Bewältigungsstrategien.

      Für Kinder sieht der Sachverhalt ganz anders aus. Sie befinden sich nicht nur physisch, sondern auch psycho-emotional in einem Wachstumsprozess. Alle gemachten Erfahrungen werden nicht im Spiegel eines bereits etablierten, orientierungspendenden Wertekanons katalogisiert und abgehandelt, sondern tragen auf einer viel tieferen Ebene dazu bei, gerade diese späteren Wertesysteme aufzubauen. Es sind somit prägende Erfahrungen.

      Die Kindheit ist das Treibhaus des zukünftigen Weltbilds. Damit einhergehend stehen alle Erfahrungen, die das Kind macht, in engem Zusammenhang mit seiner Identitätsbildung, mit seinem Selbstwert, seiner Einschätzung, ob es liebenswert ist, seinem Selbstvertrauen, ob es fähig ist, den Anforderungen seiner Umwelt adäquat begegnen zu können. Die Kindheit setzt also den emotionalen Kompass, mit dem wir auf die Reise in unser Erwachsenenleben gehen.

      Ob Josef, wenn er beim Fußballspiel den ihm zugepassten Ball nicht ins Tor platzieren kann, zur Überzeugung gelangt, dass es eben Pech war, oder aber darin eine Bestätigung sieht, dass er als Spieler unfähig ist, hängt von der »Arbeitshypothese« seines sich bereits aufgebauten und für formende Erfahrungen in der Kindheit noch sehr plastischen Selbstbilds ab.

       »Mami hat immer so rote Augen gehabt und war ganz traurig. Wenn ich sie gefragt habe, hat sie immer gesagt, dass nichts ist. Später hat sie dann gemeint, dass sie wegen Oma und ihrer Krankheit [die Großmutter leidet unter einer Krebserkrankung] geweint hat; aber Papa hat sie nie getröstet. Ich habe mich gar nicht ausgekannt.« (Philipp, 7 Jahre)

       »Wir sind gar nirgends mehr zusammen hingegangen. Papa ist mit mir allein im Tiergarten gewesen und Mama ist allein mit mir auf den Spielplatz und zu Freunden gegangen. Sie haben gesagt, dass sie keine Zeit haben. Zuerst haben sie beim Essen nur mehr mit mir und nicht mehr miteinander gesprochen, und dann haben wir auch nicht mehr zusammen gegessen. Obwohl Mama immer gesagt hat, dass das wichtig ist. Dann haben sie auch noch viel gestritten, und wenn ich gefragt habe, immer gesagt, dass es nur ein kleiner Streit ist. Es hat sich aber ganz anders angefühlt. Ich habe oft Angst bekommen, besonders wenn Papa geschrien hat und dann abends weggegangen ist.« (Manuela, 8 Jahre)

       »Bei uns ist es einfach immer stiller geworden. Meine Alten sind sich mehr und mehr aus dem Weg gegangen. Und einmal hat meine Mutter dann irgendwie nebenher gesagt, dass er jetzt weg ist. Ich war die ganze Zeit über wütend, aber es war irgendwie nicht zu fassen.« (Dominique, 14 Jahre)

      Bereits in jener von Zweifel und Konflikt beladenen Vorscheidungsperiode, in der das Abwägen von Aufrechterhalten der Beziehung versus Auflösung unser Fühlen und Denken bestimmt, sind auch unsere Kinder vom Geschehen betroffen. Man sollte nicht dem Irrtum anheimfallen, zu meinen, man könne die Beziehungskrise vor den Kindern verbergen. Gerade deswegen, weil Kinder in ihrem Wachsen und Gedeihen hochabhängig von den sie umgebenden Erwachsenen sind, haben sie ein beständiges Antennenmeer auf ihre Eltern und deren Befindlichkeit sowie die Qualität der Rückkopplung auf ihre eigenen Lebensäußerungen gerichtet. Eine durch die persönliche Krisenstimmung sich wandelnde Umgangsart mit dem Kind, Gereiztheit, Ungeduld, Müdigkeit, Traurigkeit, Verzweiflung, wird von jedem Kind wahrgenommen – und besonders vom jungen Kind, das noch in viel höherer emotionaler Verschmelzung mit dem Elternteil steht, auf sich bezogen. Hier ist auch eine jener Wurzeln zu verorten, die bewirken, dass zahlreiche Kinder sich als den Auslöser für das Missbefinden ihrer Eltern sehen. Dies kann in der Folge Ängste, Versagensgefühle, Schuldgefühle und somit eine Selbstwertbeschädigung beim Kind fördern.

      Versuchen Sie also nicht, selbst unter dem gut gemeinten Vorsatz, ihr Kind schützen zu wollen, eine Mauer um den Paarkonflikt herum zu ziehen. Jedes Kind spürt, auch wenn es dies, wie im Falle jüngerer Kinder, noch nicht in Worte zu fassen vermag, dass sich die Grundmelodie des Familienklimas bedrohlich ändert. Hier zu vernebeln, führt nur zu zusätzlicher Irritation und Verunsicherung der kindlichen Wahrnehmung.

      Weit gefehlt wäre es allerdings auch, das Kind in dieser Phase mit Details des bestehenden Paarkonflikts zu überschütten und eine drohende Scheidung als Damoklesschwert zu thematisieren. Es geht vielmehr darum, dem Kind seine Wahrnehmung in altersadäquater Form zu bestätigen, und zu vermitteln, dass beide Eltern alle Bemühungen in eine Lösung des Konflikts stecken.

      Gibt es dieses bereinigende Gespräch, eröffnet sich hier auch für das Kind die Möglichkeit, seine Befindlichkeit zur Situation zu kommunizieren und nicht alleine mit seinen oft fälschlich die Situation interpretierenden Gefühlen zu sein.

       »Als mir Mama und Papa gesagt haben, dass sie miteinander so viel streiten, weil sie sich gerade nicht miteinander verstehen und jeder die Meinung des anderen nicht für richtig hält, habe ich endlich gewusst, dass es nicht meine Schuld ist, dass dauernd Streit ist. Dann habe ich auch sagen können, dass mir das Angst macht, wenn Papa so schreit.« (Manuela, 8 Jahre, nach dem Gespräch mit ihren Eltern)