Gesammelte Werke. Odon von Horvath

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Название Gesammelte Werke
Автор произведения Odon von Horvath
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027226528



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       Inhaltsverzeichnis

      Agnes hörte Schritte.

      Das waren müde schleppende Schritte und bald konnte sie einen kleinen Mann erkennen, der vor ihr herging. Sie hätte ihn fast überholt und übersehen, so dunkel war es geworden.

      Auch der Mann hörte Schritte, blieb stehen und lauschte.

      Auch Agnes blieb stehen.

      Der Mann drehte sich langsam um und legte den Kopf bald her bald hin, als wäre er kurzsichtig.

      »Guten Abend«, sagte der Mann.

      »Guten Abend«, sagte Agnes.

      »Habens nur keine Angst, Fräulein«, sagte der Mann. »Ich tu niemand nix. Ich wohn in München und geh nach Haus.«

      »Habn wir noch weit bis München?« fragte Agnes.

      »Ich komm von Kochel«, sagte der Mann. »Den größten Teil hab ich hinter mir.«

      »Ich komm grad von da«, sagte Agnes.

      »So«, sagte der Mann und schien gar nicht darüber nachzudenken, was dies »von da« bedeuten könnte.

      Sie gingen wieder weiter.

      Es sah aus, als würde er hinken, aber er hinkte nicht, es sah eben nur so aus.

      »Was klappert denn da?« fragte Agnes.

      »Das bin ich«, sagte der Mann und sprach plötzlich hochdeutsch. »Ich hab nämlich eine sogenannte künstliche Ferse und einen hölzernen Absatz seit dem Krieg.«

       Inhaltsverzeichnis

      Agnes hat es nie erfahren, daß der Mann Sebastian Krattler hieß und in der Nähe des Sendlingerberges wohnte. Er hat sich ihr weder vorgestellt, noch hat er ihr erzählt, daß er von Beruf Schuster war, daß er aber nirgends Arbeit fand und also, obwohl er bereits seit fast dreißig Jahren eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, auf die Walze gehen mußte, nachdem er noch vorher im Weltkrieg mit einer künstlichen Ferse ausgezeichnet worden ist.

      Auch hat er es ihr verschwiegen, daß er einen Neffen im Wallgau bei Mittenwald hatte, einen großen Bauern, bei dem er irgendeine Arbeit zu finden hoffte. Aber dieser Neffe hatte für ihn wegen seiner Kriegsauszeichnung keine Arbeit, denn die Bauern sind recht verschmitzte Leute.

      Aber in Tirol würden die Pfaffen eine Kirche nach der anderen bauen und die höchstgelegenste Kirche stünde am Rande der Gletscher.

      Das seien lauter gottgefällige Werke, denn die Tiroler seien halt genau wie die Nichttiroler recht religiös. Oder vielleicht nur schlecht. Oder blöd.

      »Daß anders wird, erleb ich nimmer«, sagte der Mann.

      »Was?« fragte Agnes.

      »Sie werdens vielleicht noch erleben«, sagte der Mann und meinte noch, wenn es jetzt Tag wäre, dann könnte man schon von hier aus die Frauentürme sehen.

       Inhaltsverzeichnis

      Um Mitternacht erblickte Agnes eine Bank und sagte, sie wolle sich etwas setzen, weil sie kaum mehr weiter könne und ihre Schuhe wären nun auch schon ganz zerrissen. Der Mann sagte, dann setze er sich auch, die Nächte seien ja noch warm.

      Sie setzten sich und auf der Banklehne stand: »Nur für Erwachsene«.

      Der Mann wollte ihr gerade sagen, es wäre polizeilich verboten, daß sich Kinder auf solch eine Bank setzen oder, daß man auf solch einer Bank schläft, da schlief Agnes ein. Der Mann schlief nicht. Nicht weil es polizeilich verboten war, sondern weil er an etwas ganz anderes dachte. Er dachte einen einfachen Gedanken. »Wenn nur ein anderer einen selbst umbringen könnt«, dachte der Mann.

      Und Agnes träumte einen einfachen Traum:

      Sie fuhr in einem wunderschönen Auto durch eine wunderbare Welt. Auf dieser Welt wuchs alles von allein und ständig. Sie mußte nichts bezahlen und alles hatte einen unaussprechlichen Namen, so einen richtig fremdländischen, es war alles anders als hier. »Hier ist es nämlich wirklich nicht schön«, meinte ein Herr. Dieser Herr hatte einen weißen Hut, einen weißen Frack und weiße Hosen, weiße Schuhe und weiße Augen. »Ich bin der Papst der Kellner«, sagte der Herr, »und ich hab in meiner Jugend im Forstenrieder Park die königlichsten Agnesse erlegt. Wir trieben sie in den Starnberger See hinein und gaben ihnen vom Kahn aus gewaltige Ohrfeigen. Eigentlich heiß ich gar nicht Harry, sondern Franz.« Und Agnes ging durch den Wald, es war ein Ulmenwald und unter jeder Ulme saß ein Eugen. Es waren da viele hunderte Ulmen und Eugene und sie hatten alle die gleichen Bewegungen. »Agnes«, sprachen die Eugene, »wir haben auf dich gewartet an der Ecke der Schleißheimerstraße, aber wir hatten dort keinen Platz, wir sind nämlich zuviel. Übrigens: war der Gurkensalat wirklich so wunderbar?« Da schwebte der große weiße Engel daher und hielt eine Gurke in der Hand. »Vor Gott ist keine Gurke unmöglich«, sagte der Engel.

      Der Morgenwind ging an der Bank vorbei und der Mann sagte: »Das ist der Morgenwind.«

       Inhaltsverzeichnis

      Bevor die Sonne kommt, geht ein Schauer durch die Menschen. Nicht weil sie vielleicht Kinder der Nacht sind, sondern weil das Quecksilber vor Sonnenaufgang um einige Grade sinkt.

      Das hat seine atmosphärischen Ursachen und physikalischen Gesetze, aber Sebastian Krattler wollte nur festgestellt wissen, daß der Morgenwind, der immer vor der Sonne einherläuft, kühl ist.

      Er lief über die träumende Agnes quer durch Europa und München und natürlich auch durch die Schleißheimerstraße, an deren Ecke Eugen auf Agnes gewartet hat.

       Inhaltsverzeichnis

      Eugen stand bereits um zehn Minuten vor sechs an jener Ecke und wartete bis dreiviertelsieben.

      Bis sechs Uhr ging er ihr immer wieder etwas entgegen, ihre Schellingstraße hinab, aber ab Punkt sechs hielt er sich peinlich an die verabredete Ecke, denn er dachte, Agnes könne ja auch unerwartet aus irgendeiner anderen Richtung kommen und dann fände sie eine Ecke ohne Eugen.

      Sie kam jedoch aus keiner Richtung und zehn Minuten nach sechs sagte er sich, Frauen seien halt unpünktlich. Er war den ganzen Tag über wieder herumgelaufen und hatte trotzdem keine Arbeit gefunden. Er hatte bereits seinen Frack versetzen müssen und nahm sich vor, daß er sich heute auf dem Oberwiesenfeld anders benehmen wird, als gestern. Heute wolle er die Agnes nicht körperlich begehren, sondern in Ruhe lassen und bloß mit ihr sprechen. Über irgend etwas sprechen.

      Er besaß noch ganze vier Mark zwanzig und es war ihm auch bekannt, daß er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anspruch hat und er erinnerte sich, daß er 1915 in Wolhynien einen Kalmücken sterben sah, der genauso starb, wie ein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher.

      Agnes kam noch immer nicht und um den Kalmücken zu verscheuchen, rechnete er sich aus, wieviel Schillinge, Franken, Lire und Lei vier Mark zwanzig sind. Er hatte lange nichts mehr addiert und stellte nun resigniert fest, daß er betreffs Kopfrechnen außer Übung ist.

      Früher, während der Inflation, da hatte keiner so kopfrechnen können wie er. Überhaupt ging es ihm vorzüglich während der Geldentwertung, er hatte ja kein Geld und war der beliebteste Kellner in der Bar und auch die Bardame war in ihn verliebt. Sie hieß Kitty Lechleitner und man