Die Toten von Stade. Irene Dorfner

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Название Die Toten von Stade
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188491



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verfüge. Du hast nicht das Recht, über meinen Kopf zu bestimmen, das finde ich echt Scheiße! Anstatt hier sinnlos herumzusitzen, könnte ich in dem neuen Fall ermitteln, den jetzt die Kollegen allein bewältigen müssen.“ Dass sich dieser Fall als Selbstmord entpuppt hatte, behielt Leo lieber für sich, denn sonst hätte er kein schlagkräftiges Argument vorzubringen, um seiner ältesten Freundin ein schlechtes Gewissen einzureden. Christine zuckte aber nur mit den Schultern.

      „Die Verbrecher kommen auch mal zwei Tage ohne dich aus, so wie die Kollegen auch. Mach einfach mal Pause, das schadet dir nicht. Man kann nicht immer nur Mörder jagen, man muss auch mal ausspannen können.“

      Der siebenundfünfzigjährige Leo Schwartz lehnte sich zurück - er war sauer. Vor zwei Tagen hatte ihn Christine gebeten, sie nach Stade zu begleiten. Da er völlig übermüdet war, hatte er einfach zugesagt, ohne zu begreifen, dass Stade in Norddeutschland liegt. Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Christine bestand darauf, dass er sie begleitete, da sie zum einen nicht gerne allein verreiste, und zum anderen nicht wusste, was auf sie zukam. Außerdem stand eine Aussprache mit Leo an, die längst überfällig war.

      Christine Künstle bemerkte Leos schlechte Laune, aber die war ihr völlig egal. Die Anreise war perfekt gewesen und jetzt waren sie in Stade. Worüber beschwerte sich Leo? Sie hatte Flugtickets in der Business-Klasse und einen Privattransfer vom Hamburger Flughafen nach Stade springen lassen, außerdem bezahlte sie auch die Übernachtung und die Verpflegung während der zwei Tage Aufenthalt – für einen Schwaben wie Leo einer war doch geradezu perfekt!

      Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an den Transfer von Hamburg nach Stade mit dem Chauffeurdienst Caddy Mobil Stade, der von Marko Reidenbach betrieben wurde. Mit ihm verstand sie sich blendend. Da Leo bockte und keine Lust auf ein Gespräch hatte, unterhielt sie sich mit dem reizenden Herrn Reidenbach, der ihr alles erklärte, auch wenn sie ihn nicht darum bat. Trotzdem war sie fasziniert von den Ausführungen und hatte jede Menge dazugelernt.

      „Du hättest zu Herrn Reidenbach etwas freundlicher sein können“, warf sie Leo vor.

      „Zu wem?“

      „Zu unserem Fahrer. Er hat sich alle Mühe gegeben, aber du hast nur geschmollt. Ich habe mich echt für dich geschämt. Was soll der Mann von uns denken?“

      „Das ist mir doch egal!“ Leo verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Er hatte nicht vor, klein beizugeben.

      Christine war das gleichgültig. Leo war an ihrer Seite und sie war nicht allein, nur das zählte. Irgendwann beruhigte sich der Dickschädel auch wieder. Morgen würde sie erfahren, was sie geerbt hatte, denn davon stand kein Wort in dem kurzen Schreiben des Notars Doktor Boll. Danach ging es wieder nach Hause.

      „Warum willst du persönlich bei der Testamentseröffnung dabei sein? Das alles hättest du auch billiger haben können, Christine“, maulte Leo weiter. „Du hättest dir einen hiesigen Anwalt nehmen und deine Angelegenheit über ihn oder sie regeln lassen können. Warum wolltest du unbedingt persönlich beim Notar erscheinen?“

      „Weil ich das so entschieden habe. Nimm das einfach so hin und genieße den Aufenthalt in dieser schönen Stadt.“ Die sechsundsechzigjährige Christine war bester Laune, die ihrer Aufregung geschuldet war. Sie war vor über vierzig Jahren als junge Frau in Stade gewesen. Damals hatte sie einen Mann kennengelernt, dessen Namen sie längst vergessen hatte: Lothar Stürz. Er hatte sie nach all den Jahren, in denen sie keinen Kontakt hatte, in seinem Testament bedacht. Ja, sie war neugierig. Warum auch nicht?

      Christine stand auf und ging zur Kuchentheke, die sie verführerisch anzulächeln schien. Sie kam ins Gespräch mit einer der netten Damen, die sich ihr als Natascha vorstellte. Die hübsche Frau stellte ihr einen Teller mit den leckersten Kuchen zusammen – wie hätte Christine da widerstehen können?

      Benno Jäger hatte jedes Wort gehört, das zwischen den beiden Schwaben gewechselt wurde. Zum Glück verstand er den Kauderwelsch, da er früher eine Freundin aus Stuttgart hatte und ihm daher der Dialekt nicht fremd war. Er folgerte, dass neben ihm ein waschechter Polizist saß, sogar einer von der Kriminalpolizei. Na wenn das kein Glücksfall war! Noch zögerte Jäger. Er musterte den riesigen Mann, der optisch in den achtziger Jahren hängengeblieben schien, denn die alte Lederjacke, die engen Jeans und die Cowboystiefel hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Jetzt zog der Fremde die Lederjacke aus und darunter kam ein schwarzes T-Shirt mit einem riesigen Aufdruck zum Vorschein: Schwarz ist bunt genug. Humor hatte der Mann, das stand außer Frage. Also nahm er all seinen Mut zusammen und sprach ihn.

      „Frauen! Man kann nicht mit ihnen, aber auch nicht ohne sie“, sagte Jäger lächelnd.

      „Absolut richtig.“

      „Sie sind zum ersten Mal in unserem schönen Stade?“

      „Ja. Morgen fahren wir zurück.“

      „Das war kaum zu überhören. Sie sind aus Baden-Württemberg?“

      „Gebürtig ja, ich lebe und arbeite aber in Bayern. Genauer gesagt in Mühldorf am Inn.“

      „Das sagt mir nichts.“

      „Altötting vielleicht? Die Wallfahrtsstadt lockt jährlich Millionen Gläubige an.“ Ob die Zahl stimmte? Leo war sich nicht sicher. Es waren viele, da waren mehrere Millionen sicher nicht übertrieben.

      „Doch, Altötting sagt mir was. War da nicht vor Jahren der Papst zu Besuch?“

      „Richtig.“ Dass es drei Päpste waren, die 1782, 1980 und 2006 Altötting besuchten, behielt er für sich. Nicht nur, weil er nichts für die Kirche an sich übrig hatte, sondern weil er Details dieser Besuche nicht kannte und somit auf die zu erwartenden Nachfragen keine Antworten geben konnte.

      Die beiden plauderten, während sich Christine jetzt im Gespräch mit einem anderen Gast befand und dabei ihre Kuchen aß. Leo genoss das Gespräch mit dem Fremden, da er echt sauer auf Christine war und momentan gerne auf ihre Gesellschaft verzichten konnte.

      Leo Schwartz und Benno Jäger stellten sich einander vor, womit es sich viel leichter plaudern ließ. Sie redeten über alle möglichen Dinge - dann kratzte Jäger all seinen Mut zusammen und sprach Leo jetzt auf das an, was ihm auf dem Herzen lag.

      „Sie sind doch Ermittler, Herr Schwartz. Entschuldigung, aber das war vorher nicht zu überhören. Ihre Begleitung sprach von Morden und Ermittlungen.“

      „Das ist richtig, ich bin Hauptkommissar bei der Mordkommission.“

      „Eine Bekannte erhält Postkarten mit seltsamen Sätzen. Wäre das ein Fall für die Polizei? Sollte ich das melden?“

      „Kommt darauf an. Fühlt sich die Frau bedroht oder belästigt?“

      „Das ist ein riesiges Problem, denn sie spricht nicht darüber. Genau genommen spricht sie kein einziges Wort, mit niemandem. Sie zog im letzten Herbst nach Stade. Niemand kennt sie und sie scheint auch keine sozialen Kontakte zu haben. Sie lebt in einem der heruntergekommensten Häuser im Altländer Viertel, dort gehört sie nicht hin.“

      „Ich verstehe. Die Frau ist die Betroffene und sie müsste zur Polizei gehen.“ Leo wurde neugierig. „Sie sprachen von seltsamen Sätzen? Woher wissen Sie davon?“

      „Vom Postboten – aber das bleibt unter uns. Sie sind augenblicklich nicht im Dienst, wir plaudern hier nur privat. Unser Siggi ist ein netter Kerl, ich möchte ihm nicht schaden.“

      „Alles klar.“

      „Das hier sind zwei Sätze, an die sich der Siggi erinnern kann.“ Jäger gab Leo den Zettel und rutschte mit seinem Stuhl etwas näher.

      Ungläubig las Leo die seltsamen Sätze, die auch für ihn spontan keinen Sinn ergaben.

      „Von wie vielen Postkarten sprechen wir?“

      „Der Siggi sagt, dass es insgesamt acht waren. Frau Leipert bekommt nur diese Postkarten – keine Briefe, keine Pakete oder dergleichen. Alle wurden in Hamburg abgestempelt, auf allen sind Segelschiffe abgebildet.“

      „Interessant“,