Unvergessene Jahre. Helmut Lauschke

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vom anderen ausgesessenen Sessel nahm, zusammenfaltete und auf den Boden links neben den Sessel legte. “Der Rückenschmerz”, antwortete Alfred Lehmann. “Wie kann ich das verstehen?”, fragte Otto Schulte und fügte hinzu: “Bei so einem Wetter kann doch der Rückenschmerz nur schlimmer werden.” “So ist es. Deshalb bin ich zum Arzt gegangen, damit er mir neue Schmerztabletten verschreibt”, erklärte Alfred Lehmann die Situation. Otto Schulte verstand die Situation und wiederholte, was er von einem der Gespräche der gemeinsamen Spaziergänge durch den Buchenwald wusste, dass der Rückenschmerz Folge eines Sturzes vom Gerüst sei, was Alfred Lehmann mit einem Kopfnick bestätigte. “Dann haben Sie aber schon viele Jahre diese Schmerzen”, folgerte Otto Schulte richtig und stellte die Frage, ob da nicht die Behandlung durch einen Wirbelsäulenspezialisten angezeigt sei. Alfred Lehmann verstand die Fragestellung und sagte, dass er auch daran gedacht habe. “Und was sagt ihr Arzt?”, erweiterte Otto Schulte die Fragestellung. “Der hält das offensichtlich für erfolglos. Jedenfalls hat er davon nichts gesagt. Ich kann aber nicht sagen, dass er an eine Spezialbehandlung nicht gedacht hat”, erwiderte Alfred Lehmann. “Dann müssen Sie ihn eben darauf ansprechen. Vielleicht lässt sich doch durch eine Operation eine Besserung erzielen”, schlussfolgerte Otto Schulte. Dieser Schlussfolgerung konnte Alfred Lehmann ebenfalls folgen, wenn er auch Bedenken hatte, ob eine solch aufwendiger medizinischer Vorgang, wie es eine Operation an der Wirbelsäule ist, einem Rentner als einem ‘Otto Normalverbraucher’ von staatlicher Seite zugestanden wird. “Versuchen können Sie es doch”, reagierte Otto Schulte auf die Bedenken des Spaziergangsgefährten durch den Buchenwald. Er bot sich gegenüber Alfred Lehmann sogar an, einem höher gestellten Funktionär im Ministerium für Volksgesundheit das Rückenproblem vorzutragen, um von höherer Stelle die nötige Unterstützung zu bekommen. Alfred Lehmann zog die Stirn in Falten und stellte sich die Frage, ob so etwas überhaupt möglich sei in einem sozialistisch reglementierten Arbeiter- und Bauernstaat. Auch wunderte sich Alfred Lehmann, dass Otto Schulte über solche höherreichenden Verbindungen verfügte, was ihn reflektorisch auf den Verdacht eines ‘antifaschistischen Horchlöffels’ brachte, wofür er aber bislang keinerlei Anhaltspunkte bei den gemeinsamen Spaziergängen durch den Buchenwald herausgehört hatte.

      Otto Schulte erwähnte, dass er einen Sohn im Zentralkomitee sitzen habe, der einiges möglich machen kann, was ein gewöhnlich Sterblicher im Staat der sozialistischen Errungenschaft und Verbrüderung, wenn überhaupt, nur schwer erreichen könne. Alfred Lehmann nahm es zur Kenntnis, ohne weitere Fragen bezüglich des hoch angekommenen Sohnes zu stellen. Er dachte dabei an seinen Sohn Kurt, der es zum Fregattenkapitän bei der Volksarmee gebracht hatte, den er wegen seiner Rückenschmerzen hätte ansprechen können, was er jedoch nicht getan hatte, weil er auf die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und in der medizinischen Betreuung in diesem Staat vertraut hatte, aber von der Ungleichheit vor beidem, dem Gesetz und den medizinischen Möglichkeiten, enttäuscht worden war. Die sozialistischen Errungenschaften hatten eine politische Eliteklasse, die Nomenklatura, hervorgebracht, der er als ‘Otto Normalverbraucher’ eben nicht angehörte und die Alfred Lehmann als eine chauvinistische Missgeburt betrachtete. Otto Schulte führte das Gespräch auf die überteuerten Lebensmittelpreise in den Läden der staatlichen Handelsorganisation und sagte, dass er sich schwerlich vorstellen könne, wie sich eine kinderreiche Familie mit nur einem verdienenden Brotbringer ordentlich ernähren könne. “Von Luxusartikeln wie einem Trabi oder qualitativ hochwertigen Geräten oder einer anspruchsvollen Kleidung will ich gar nicht reden. Da wird doch eine Zeitbombe gesetzt, die spätestens in der nächsten Generation hochgehen kann”, sagte Otto Schulte. Alfred Lehmann staunte über die offene, nicht-konforme Äußerung und stellte sich vor, wie der hochgestellte Sohn vom Zentralkomitee mit hochgezogener Stirn auf seinen Vater herabgeblickt und ihn zur sozialistischen ‘Ordnung’ oder Linientreue ermahnt hätte.

      Otto Schulte sah ihn mit dem grau-fahlen Gesicht mit den Falten um die blauen Augen und dem schütteren ergrauten Haar mit der Stirnglatze an, als erwartete er eine Antwort. “Ich stimme ihnen zu, dass das Leben im Sozialismus teuer geworden ist, dass es ein Einzelner gar nicht schaffen kann, eine Familie mit mehr als einem Kind zu unterhalten”, erwiderte Alfred Lehmann. Darauf meinte Otto Schulte, dass die Geburtenkontrolle eine preisgebundene sei, worin sich der Sozialismus nicht vom Kapitalismus unterscheide. Die Äußerung setzte Alfred Lehmann in stärkeres Erstaunen, dass der Spaziergangsgefährte durch den Buchenwald den Sozialismus mit seinen Errungenschaften auf eine Stufe mit dem Kapitalismus setzte. Eine innere Stimme sagte ihm, vorsichtig wenn überhaupt auf diese Äußerung zu reagieren. “Da müssen eben beide Eltern arbeiten. Da meine ich unterscheidet sich die sozialistische Gesellschaft von der kapitalistischen, dass in diesem Arbeiter- und Bauerstaat jeder Arbeit findet, wenn er arbeiten will. Arbeitslosigkeit kennt der Sozialismus im Gegensatz zum Kapitalismus nicht.” Das war die Resonanz von Alfred Lehmann auf die sozialistisch-kritische Äußerung von Otto Schulte bezüglich der preisgebundenen Geburtenkontrolle, wobei er der inneren Stimme zur Vorsicht gefolgt war.

      Otto Schulte holte eine Flasche Pils der VEB-Brauerei Wismar und zwei Biergläser und füllte beide Gläser. “Trinken wir auf die sozialistische Zukunft.” Mit diesem Trinkspruch erhob er das Glas und sagte ‘prost’. Alfred Lehmann folgte, hob sein Glas mit dem Gegenprost und spülte mit dem zu wenig gekühlten Bier den bitteren Beigeschmack mit der sozialistischen Zukunft von der Mundschleimhaut. “Wissen Sie”, fuhr Otto Schulte fort und setzte das Glas auf die verkratzte Glasplatte des kleinen Klubtisches, “ich habe mir die sozialistischen Errungenschaften etwas anders vorgestellt. Ich hatte die Vorstellung, dass sich der Sozialismus durch eine gerechte Güterverteilung nach dem Gleichheitsprinzip vom Kapitalismus unterscheidet. Es hat sich aber eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet, in der die Staatsfunktionäre oben die Sahne abschöpfen und die Magermilch für den Normalverbraucher unten übrig bleibt. Das verstößt meines Erachtens gegen das Gleichheitsprinzip. Was meinen Sie dazu?” Alfred Lehmann nahm einen Schluck vom zu wenig gekühlten Bier, setzte das Glas zurück und sagte, dass er da nicht widersprechen könne. “Dann teilen Sie auch meine Meinung”, fuhr Otto Schulte fort, “dass ein unausgewogener oder ungleich hantierter Sozialismus die Gefahr des Weg- oder Umkippens habe, wenn das System auf unsoliden Säulen ruht. Aber gerade das braucht unser neues Deutschland nach den beiden großen Kriegen nicht, und spätestens die junge Generation wird auf die Ungleichheit der Behandlung mit einem Sturm der Empörung reagieren. Sie wird die Oberklasse der Funktionäre als die neue Ausbeuterklasse brandmarken, die den Fleiß der arbeitenden Klasse zu ihrem Vorteil ausbeuten und durch ihre Raffgier den Sozialismus ruinieren und letztendlich als ein ausgehöhltes totes Gebilde zum Einsturz bringen.”

      Alfred Lehmann war sprachlos über die offene Kritik in der Handhabung des Sozialismus im neuen Deutschland und wusste der Kritik weder etwas hinzuzusetzen noch sie anhand von Tatsachen abzumildern. Er entschuldigte sich damit, dass er zur Praxis seines Arztes gehen müsse, um das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen, obwohl der Abholtermin erst für den Nachmittag vereinbart war, weil Dr. Brettschneider den ganzen Vormittag in der Poliklinik beschäftigt sei, wie Frau Speer, seine Sprechstundenhilfe, sagte. Alfred Lehmann drank das Glas aus und stellte es auf die verkratzte Glasplatte des kleinen Klubtisches. Otto Schulte begleitete ihn vor die Wohnungstür und sah zu, wie Alfred Lehmann den grauen Regenmantel vom Treppengeländer nahm und sich anzog und die abgegriffene schwarze Baskenmütze, das Erbstück seines Onkels Karl auf den Kopf setzte und in die richtige Position schob. “Ihrem Rücken wünsche ich eine gute Besserung”, sagte Otto Schulte, während sich Alfred Lehmann den Regenmantel zuknöpfte und mit der linken Hand noch einmal über die Baskenmütze strich. “Denken Sie daran, den Arzt auf die Spezialbehandlung bei einem Orthopäden anzusprechen. Wie gesagt, ich könnte in dieser Sache mit einem höhergestellten Funktionär im Ministerium für Volksgesundheit sprechen, um eine operative Behandlung mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit zu ermöglichen.” Nach diesem Schlusskommentar von Otto Schulte gaben sich beide die Hand, und Alfred Lehmann dankte für das Bier und das Angebot. Sie gingen auseinander, Otto Schulte zurück in die Wohnung, wobei er die Wohnungstür leise in Schloss legte, und Alfred Lehmann die Treppe herunter mit den ausgetretenen quietschenden Stufenplanken und der linken Hand am Geländer wegen der erheblichen Rückenschmerzen, die in beide Lenden ausstrahlten. Er drehte am Knopf und zog den Schließbolzen der Haustür zurück und schloss die Haustür mit dem Schnapplaut des Verschlusses.

      Der