Die Schattensurfer. Hubert Wiest

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Название Die Schattensurfer
Автор произведения Hubert Wiest
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783847667841



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      Luans Magen klumpte wie saure Milch. Er wagte nicht, Mama Berta in die Augen zu sehen. Er blickte auf die Nudeln, die verstreut über den Boden lagen. „Ich habe noch Hunger gehabt. Freitagmittag gibt es immer Sauerkraut. Das vertrag ich nicht“, murmelte er und bückte sich, um die Nudeln einzusammeln. Die Hand mit seinem ceeBand hielt er hinter dem Rücken.

      „Ich meine nicht die Nudeln. Gib die Geldkarte her.“

      Es hatte keinen Sinn zu lügen. Luan zog die blaurote Karte aus seinem ceeBand und reichte sie Mama Berta über den Herd.

      „Komm gefälligst her“, schnaubte Frau Bertowa und packte Luan am Arm. Grob zog sie ihn zu sich. Sie kontrollierte die Geldkarte mit einem Lesegerät. 400 Euro blinkten auf.

      „Luan, du hast die Gemeinschaft bestohlen“, wie verfaultes Fleisch spuckte Frau Bertowa diese Worte aus.

      „Ich kann das erklären“, stammelte er und starrte auf Mama Bertas Hausschuhe.

      „Da gibt es nichts zu erklären. Du hast uns bestohlen. Du hast das Vertrauen der Gemeinschaft missbraucht.“

      „Aber Mama Berta, es ist anders, als Sie denken. Ich …“, versuchte es Luan.

      „Schweig. Ich will deine Lügen nicht hören. Für dich bin ich nicht mehr Mama Berta. Merk dir das.“

      „Bitte, nur zwei Minuten“, flehte Luan.

      „Nein, das hättest du dir früher überlegen müssen“, sagte Frau Bertowa. Sie zog ihren Regenschirm durch die Luft, als wollte sie damit jeden Widerspruch abschneiden. „Du Betrüger bist von der Kristallfeier ausgeschlossen. Aus dir wird kein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Du hast die Kristallfeier nicht verdient. Niemals.“

      Die Kristallfeier, schoss es Luan durch den Kopf. Seit Monaten hatte er für die Kristallprüfung gelernt. Endlich durfte er beweisen, was er wirklich konnte. Keiner machte ihm etwas vor, wenn es um Computer ging. Er war der Beste in seiner Klasse, vielleicht in der ganzen Schule. Sein Lehrer hatte einmal gesagt, dass er das Zeug zu etwas Besonderem hätte.

      Frau Bertowas Stimme drang wie durch Watte an Luans Ohren. Die ganze Küche drehte sich um ihn. Und dann tauchte er wie nach einem gleißenden Blitz in tiefe Dunkelheit.

      2 NIE MEHR HÄPPY

      Luan hatte keine Ahnung, wie er in sein Bett gekommen war. Er wusste nicht, wie lange seine Ohnmacht gedauert hatte. Minuten, Stunden oder Tage? Sein Kopf dröhnte, als führe eine Autobahn mitten hindurch. Er fühlte sich an wie auf doppelte Größe angeschwollen. Luan ertastete einen turbandicken Verband. „Du hast eine schwere Gehirnerschütterung erlitten“, sagte die Krankenschwester.

      Nach zehn Tagen ließ das Hämmern in seinem Kopf endlich nach. Luan konnte kaum noch liegen. Alles tat ihm weh, egal ob er sich auf den Bauch, den Rücken oder die Seite drehte. Stundenlang starrte Luan auf die beiden Poster in seinem Zimmer: Marc Bodin und Eva Hanberg, die besten Computerprogrammierer der Welt. Beide waren erst 20 Jahre alt. Eva Hanberg arbeitete mittlerweile als Chefprogrammiererin für den Computerhersteller Mermox. Marc Bodin war vor einem Jahr verschwunden und blieb seitdem verschollen.

      Auf Luans Schreibtisch stapelten sich Computerbauteile. Aus ihnen baute Luan neue Computer, programmierte sie oder reparierte Geräte von Bekannten. Luan legte Wert darauf, dass es Bekannte waren, denn Freunde hatte er keine. Luan traute niemandem. Zu oft war er enttäuscht worden. Die anderen von den Häppy Kidz hatten ihm oft übel mitgespielt. Nur wenn sie Probleme mit Computern hatten, dann kamen sie wieder an.

      In den vergangenen Tagen hatte Luan immer wieder überlegt, was er Mama Berta sagen würde, wie er sich verteidigen könnte. Satz für Satz hatte er geplant.

      Aber Mama Berta kam nicht. Irgendwann beschloss Luan, selbst zu ihr zu gehen.

      Wackelig stand Luan vor dem kleinen Waschbecken in seinem Zimmer. Er begann den Verband von seinem Kopf zu lösen. Links an der Stirn hatte er eine verkrustete Platzwunde. Luan versuchte sein Spiegelbild anzulächeln und verzog die Augen zu Schlitzen. Er streifte sein Lieblings-T-Shirt über, das mit der ceeBand-Werbung.

      Dann ging er zur Tür. Luan griff nach dem runden Knauf. Doch der Knauf ließ sich nicht drehen. Die Tür war abgesperrt, verschlossen wie eine Zelle. Luan rüttelte daran, zerrte, riss und drückte. Er polterte gegen die Tür. Er donnerte mit den Fäusten auf den schweren Kunststoff und schrie: „Aufmachen. Ich muss hier raus.“ Immer lauter, aber niemand schien ihn zu hören, als würde kein Laut nach außen dringen.

      Plötzlich leuchtete der Bildschirm auf, der über dem Schreibtisch in die Wand eingelassen war. Aus den Lautsprechern drang ein Räuspern und vom Bildschirm lächelte ihn Mama Berta an, zumindest hatte sie ihren strichdünnen Mund ein wenig in die Breite gezogen.

      Luan erschrak. Noch nie hatte Mama Berta die Computerkamera genutzt. Das tat sie aus Prinzip nicht. Sie wollte den Leuten lieber direkt in die Augen sehen, nicht durch eine Glasscheibe. Oft genug hatte sie das erwähnt.

      Luan ging hinüber zum Bildschirm. Das rote Kameralämpchen blinkte. Mama Berta blickte ihn regungslos an, doch Luan war fast sicher, dass sie zumindest ein wenig lächelte.

      „Mama Berta“, haspelte Luan. „Ich weiß, ich hätte das nicht tun dürfen. Ich schwöre, ich werde das Geld zurückzahlen. Immer habe ich meine Schulden beglichen. Schon fünf Mal habe ich mir Geld ausgeliehen. Aber nicht einen Cent bin ich schuldig geblieben. Bitte prüfen Sie es nach! Fragen Sie die Köchin! Es fehlt nichts. Gar nichts. Und auch diesmal hätte ich das Geld zurückgezahlt. Alles. Vertrauen Sie mir!“

      Luans Geständnis schien Mama Berta nicht zu beeindrucken. Ernst blickte sie Luan vom Bildschirm herab an. Luan war ganz sicher, dass sie zumindest ein wenig lächelte. Das gab ihm Mut. Er holte Luft und fuhr fort: „Sie wissen doch, ich repariere Computer, helfe Bekannten und dafür muss ich Ersatzteile kaufen: Prozessoren, Speicherbausteine, Controllerchips und all die anderen Tausendfüßler. Tausendfüßler, so nennt man die elektronischen Bauteile. Schwarze Chips mit vielen silbernen Beinchen dran.“ Luan lachte unsicher.

      „Luan, du hast uns belogen und bestohlen. Nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Ich habe das überprüfen lassen. Du gehörst nicht mehr zu uns, nicht zu den Häppy Kidz.“

      „Das stimmt nicht“, schrie Luan. Er sprang auf und stellte sich vor Mama Bertas Blick. Sie nahm keine Notiz von ihm.

      „Luan, du weißt, wir geben allen eine zweite Chance“, sagte Frau Bertowa nüchtern, als würde sie eine Gebrauchsanweisung für Waschpulver vorlesen. „Aber keine vierte oder fünfte. Meine Entscheidung steht fest. Du wirst von der Kristallfeier endgültig ausgeschlossen. Betrüger bekommen keinen Platz in unserer Gesellschaft. Du wirst ein Leben ohne Computer führen müssen.“

      Luan krallte sich an der Tischplatte fest. Er flehte: „Nein, Mama Berta, bitte nicht. Ich habe nicht gestohlen! Niemals!“

      Doch Frau Bertowa verschwand im dunklen Glas des Monitors. Sie hatte einfach aufgelegt, ihm nicht die kleinste Chance gegeben. Die Monitorscheibe glänzte matt.

      Luan stürzte auf sein Bett. Er heulte und schrie. Er packte sein Kissen und donnerte es gegen die Wand. Immer wieder, bis es platzte und Schaumperlen durch das Zimmer rieselten.

      Ohne Kristallfeier konnte er vergessen, jemals Programmierer zu werden. Er dürfte nicht einmal einen Computer besitzen und sein ceeBand würden sie ihm abnehmen. Wer es bis zum 17. Geburtstag nicht geschafft hatte, die Kristallprüfung abzulegen, dem wurde der Zugang zu Computern für immer verboten. Dessen Gedanken störten den Geist der Gemeinschaft. Sie waren verdorben wie Müll, hatte er in der Schule gelernt.

      Er konnte nicht bei den Häppy Kidz bleiben und abwarten, bis sein 17. Geburtstag ohne Kristallprüfung verstrich. Er musste weg hier, verschwinden. Heute noch. Ein Bekannter hatte einmal erzählt, dass es im Lunapark immer eine Möglichkeit gäbe unterzutauchen. Niemand fragte im Lunapark so genau nach, wenn es darum ging, Fahrgeschäfte zu reinigen oder in den riesigen Kantinen Kartoffeln zu frittieren. Der Lunapark war sein Strohhalm. Dorthin würde er fliehen und Luan fasste einen