STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden

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Название STÖRFÄLLE
Автор произведения Gudrun Gülden
Жанр Языкознание
Серия Dine
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742797483



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raus. Die meiste Zeit verbrachte er mit Lesen. Er las jeden Tag drei Zeitungen, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Rundschau und die Großbekener Zeitung. Wöchentlich las er den Spiegel, Die Zeit, das Time Magazine und monatlich kamen dann noch Geo und Das Mitbestimmungsgespräch hinzu. Er las das alles genau, regte sich auf und dann erzählte er uns endlos davon. Gerade hatte er das Thema Atomkraft entdeckt. Sein großes Feindbild war die RWE.

      „Die von der RWE machen, was sie wollen“, sagte er. „Die bestimmen unsere Zukunft, nicht die Politiker. Die schließen die Kohlewerke und bauen die Atomkraftwerke. Mich macht es krank, dass wir nichts dagegen tun können und die so ungeniert vorgehen.“

      Außerdem motzte er seit neuestem über Helmut Schmidt, obwohl er immer ein sehr treuer SPD-Anhänger gewesen war. Wenn er länger als fünf Minuten von Willi Brand redete, kamen ihm die Tränen, ohne Scheiß.

      Meine Mutter hatte gewisse Probleme, sich mit ihrem Leben als Mutter und Hausfrau zu identifizieren. Sie hasste es zu kochen, zu putzen, zu Hause zu sein, sich um mich oder Mopsi zu kümmern. Und das lag nicht daran, dass sie faul gewesen wäre. Es war einfach nicht ihr Ding. Ich fragte mich manchmal, wie sie es mit uns aushielt. Jetzt hatte Papa das Fass zum Überlaufen gebracht.

      Sie haute ab. Wegen Papa und der Yogatussi. Sie packte noch am gleichen Tag ihre Sachen, nahm das Auto (unser einziges) und fuhr aus unserem Leben. Sie umarmte mich und sagte, es ginge jetzt nicht anders und ich solle ihr nicht böse sein. Ich war nicht sauer auf sie. Ich hatte ein bisschen Angst, dass Papa es vielleicht ernst meinte mit der Yogatussi und meine Eltern sich trennen würden. Alle im Ort sagten, dass eine schlechte Familie immer noch besser sei, als keine Familie. Und ich hätte lieber ein Handtuch gegessen, als mit Mama alleine zu wohnen.

      Kulinarisch gesehen bestand die Zeit ohne Mama aus einer Aneinanderreihung von Tiefpunkten. Papa und ich aßen morgens trockenes Müsli, weil nie Milch da war und tranken dazu löslichen Kaffee mit Zucker. Zwischendurch kaufte ich mir Schokoschaumwaffeln vom Schulbüdchen. Mittags ging ich zum Currywursteck und aß Pommes und abends hauten wir uns Chips oder so was rein. Eigentlich stand ich total auf gesundes Essen, Vollkornbrot, Gemüsesuppe, Salat und so was, aber ich sah es nicht ein, wegen Papas Scheiße die Versorgung zu übernehmen, das fehlte noch. Außer für Mopsi, für die holte ich das Futter vom Raiffeisen. Nachdem Papa sich im Dorfladen mit zwanzig Packungen Pumpernickel und vierzig Dosen Thunfisch in der Dose eingedeckt hatte, ging er nicht mehr einkaufen.

      Lissis Mutter hasste mich wegen der kaputten Schuhe, die aus Italien waren. Mein Vater versprach, den Schaden zu ersetzen, was er aber nie tat. Lissi bekam Hausarrest und sie zu besuchen war bei Todesstrafe verboten. Zum Scherbenkonzert durfte sie auch nicht.

      Noch heute schafft es mich total, wenn ich an meine Unterhose denke, die vollgepinkelt irgendwo rumlag und einen Riesenschnitzer in den Landhauslack ritzte. Ich habe Sachen gemacht, die schlimmer sind. Viel schlimmer. Für die kann ich mich nicht so schämen, wie für die vollgepinkelte Unterhose. So was kann richtig zwischen zwei Menschen stehen. Immer wenn ich danach Lissis Mutter traf, musste ich an diese beknackte Unterhose denken und habe mich gefragt, ob sie auch daran denkt und war dann unlocker.

      Üble Nachrede

      Lissis Eltern versuchten, sich maximal progressiv zu verhalten, außer dass ihre Mutter sich wieder mal wieder umbringen wollte, weil Lissi ihr so Kummer machte und sie ja wohl schon genug Sorgen wegen Michael hatte. Lissi musste zum Psychologen. Sie fand das gar nicht so schlecht, denn letztendlich konnte sie dort endlos über ihre Eltern und Lehrer lästern und der Idiot gab ihr immer Recht.

      Das Allerabgefahrenste war, dass Lissis Eltern den Lehrern ohne äußere Not erzählten, dass wir kifften, das musste man sich mal vorstellen, anstatt, dass die froh waren, dass die von der Schule nichts mitbekommen hatten. Wir waren schließlich im Jahr vorm Abi. Das machte das alles nicht leichter. Alle hatten Angst wegen des Umgangs. Dazu gehörten die Clique (die sie gar nicht kannten) und vor allem ich.

      Samstagmorgens hatte ich Geschichte, die ersten beiden Stunden. Peter sprach mich nach dem Unterricht an, ob wir uns nach dem Unterricht treffen könnten, im Lehrerzimmer. Ich war nervös.

      Wir trafen uns um halb zwölf.

      „Wie geht es dir?“, fragte er.

      „Gut“, sagte ich. Was sollte ich denn auch sagen.

      „Ich habe mit deiner Klassenlehrerin gesprochen. Du warst Thema in der Lehrerkonferenz“, sagte er merkwürdig angespannt. „Sie haben überlegt, ob du einen Schulverweis bekommst.“

      „Wieso das denn?“

      „Weil du Schülerinnen anstiftest, Drogen zu nehmen. Ihr sollt bei Schuhmachers zuhause Haschisch geraucht und das Haus zerstört haben. Jemand hat dich bei der Direktorin angezeigt. Sie werden deine Eltern kontaktieren.“

      „Lissis Mutter?“, fragte ich. Eine rhetorische Frage.

      Er nickte.

      „Und die Mutter von Eveline Paluschke“, sagte er.

      Ich fragte mich, ob Lissi oder Eveline davon wussten, dass ihre Eltern mich angeschwärzt hatten.

      „Was heißt das für mich? Abgesehen, davon, dass das nicht stimmt.“

      „Wenn das stimmt, kannst du von der Schule fliegen. Also, der Teil mit dem Anstiften“, sagte Peter.

      „Das ist Blödsinn“, sagte ich.

      „Und das demolierte Haus?

      „Na ja....“, sagte ich. „Da ist schon was dran. Ich habe ein Schuhriemchen abgerissen.“

      „Hat das was mit mir zu tun, dass du solche Sachen machst?“

      „Sie glauben, das hat was mit Ihnen zu tun?“, fragte ich.

      Er wurde rot. Ich sah es deutlich.

      „Es täte mir leid, wenn es wegen mir ist.“

      „Nein“, sagte ich. „Ist es nicht.“

      „Du kriegst Ärger“, sagte er.

      „Und wenn schon.“ Ich lächelte ihn an. Ich hätte immer so mit ihm sitzen können. Und wenn er mir gesagt hätte, dass ab jetzt die Mutter von Eva Maul das Sorgerecht für mich hätte, ich hätte es genossen.

      Mein Vater wurde zur Direktorin bestellt. Danach war von Polizei nicht mehr die Rede. Die Direktorin sprach mit mir und fragte mich, ob ich Sorgen hätte oder so und bat mich um Entschuldigung. Als ich Peter das nächste Mal sah, in der Geschichtsstunde, lächelte er mir zu. In meiner Brust kam es zu einer Knallgasreaktion. Die Wärme ließ mein Gesicht rot anlaufen.

      Meine Mutter wurde nie wieder zu den Kaffeekränzchen eingeladen. Sie war eh nur eingeladen worden, weil Lissis und Evelines Mutter fanden, dass sie aus einer interessanten Familie käme. Ich war mir nicht sicher, ob das Kiffen der wirkliche Grund war, warum sie nicht mehr eingeladen wurde. Das hatte eher damit zu tun, dass mein Vater fremdgegangen war. Als wäre das so eine Art Virus, der dann eventuell auch auf ihre Männer überspränge oder meine Mutter auf ihre Männer springen würde, um sich an meinem Vater zu rächen und von Solidarität war da eh nicht viel die Rede.

      Lissi wurde von ihrem Vater zur Schule gefahren und wieder abgeholt. Dafür fuhr mein Vater jetzt im Schulbus mit nach Großbeken, weil wir kein Auto mehr hatten und der Schulbus zeitlich günstiger für ihn fuhr. Das war natürlich gar nicht peinlich für mich.

      Im Unterricht saß ich nicht mehr neben Lissi, sondern neben Kathrin, die eigentlich neben Eveline saß, die aber jetzt neben Lissi sitzen musste. Eveline und Kathrin waren Freundinnen und wollten nicht getrennt sitzen, aber Lissis Mutter ging zu unserer Schulleitung und wenn Lissis Mutter was wollte, kam keiner dagegen an. Die Pausen verbrachte Lissi bei der Direktorin im Büro. Oft kam sie verheult zurück ins Klassenzimmer, bestimmt wegen Lukas, den sie nicht mehr sehen durfte.

      Ob sie auch wegen mir weinte? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich weinte auch nicht, aber ich weine sowieso eher selten. Eigentlich nur wegen Mopsi, wenn mit ihr was