Das Hortensien-Grab. Irene Dorfner

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Название Das Hortensien-Grab
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753190648



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einmal auf seine Berührung, als er ihren Arm streichelte.

      „Eintopf. Er ist warm und macht satt. Wenn es nach mir ginge, würde ich dir gern ein Schnitzel oder einen Braten servieren, aber dir darf man kein Messer und auch keine Gabel geben. Erinnerst du dich, als du mich damit verletzt hast?“

      Die Frau nickte leicht. Ja, sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern. Wie viele Jahre war das her? Sie hatte längst aufgehört, die Tage, Wochen, Monate und Jahre zu zählen. Warum sollte sie auch? Der Bastard würde sie niemals mehr aus diesem Loch rauslassen, das hatte sie verstanden. Ja, sie war damals damit einverstanden gewesen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr so schwerfallen würde. Wie sollte sie? Vorher war sie noch nie eingesperrt gewesen. Das Kellerloch war jetzt ihr Schicksal. Sie musste ausharren und einfach nur darauf warten, bis sie starb – und deshalb hatte sie vor einer Woche einfach aufgehört zu essen. Sobald Josef weg war, goss sie das Essen in den Ausguss des kleinen Waschbeckens, das er ihr gnädiger Weise eingebaut hatte. Eine Toilette gab es nicht. Sie musste sich in einen Eimer erleichtern, den er täglich entsorgte.

      „Iss, Liebes, du bist sehr dünn geworden“, sagte das Arschloch, als könnte er ihre Gedanken lesen. Wann ging er endlich? Anstatt zu verschwinden, blieb er einfach stehen. „Ich bleibe so lange, bis der Teller leer ist. Du bist sehr bockig, Hildchen. Trotz der vielen Jahre und vielen Gespräche bist du immer noch uneinsichtig. Das ist schade, denn damit verärgerst du mich. Willst du mich ärgern?“ Mit den Händen zog er eine imaginäre Spritze auf und sah seine Frau dabei an. Hilde Hiermaier schüttelte den Kopf. Josef hatte ihr das Medikament schon lange nicht mehr gespritzt und sie war nicht scharf darauf, denn dann verbrachte sie Tage im Delirium. Das allein wäre nicht schlimm, denn Zeit hatte sie genug. Aber sie vertrug das Medikament nicht und bekam davon rasende Kopfschmerzen, die ihr Angst machten. Auch wenn sie am liebsten sofort sterben würde, konnte sie auf diese Schmerzen gerne verzichten. Diesmal hatte der Drecksack gewonnen. Sie nahm den Plastiklöffel und aß den Eintopf, der wie immer nach nichts schmeckte.

      „So ist es brav“, sagte Josef und trommelte mit den Fingern auf die verschränkten Arme.

      Hilde wollte etwas übriglassen, aber ihr Mann, den sie 1986 geheiratet hatte, ließ das nicht zu. Sie würgte sich den letzten Löffel runter.

      „Trink das Glas aus, los!“, drängelte Hiermaier und sah auf die Uhr. Gleich kam eine Dokumentation über Vögel, die er unbedingt sehen wollte. Vögel waren seine Leidenschaft.

      Hilde trank - was blieb ihr anderes übrig?

      „Warum sprichst du nicht mehr mit mir? Du weißt doch, dass ich dich hier zu deiner eigenen Sicherheit einsperren muss. Das macht mir keine Freude, das kannst du mir glauben. Ich würde auch sehr viel lieber ein normales Leben führen, aber das ist uns beiden leider nicht vergönnt.“ Er strich ihr übers weiße Haar und sie zuckte zusammen. Sie konnte seine Berührungen schon lange nicht mehr ertragen. Hiermaier spürte ihre Reaktion und ärgerte sich darüber. War es seine Schuld, dass er sie im Keller einsperren musste?

      „Die ersten Knospen an der Hortensie sind sichtbar. Bald ist es so weit und wir können feiern.“

      Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Seitdem sie hier eingesperrt war, gab es zwei Tage im Jahr, die gefeiert wurden und an denen sie nach oben gehen durfte. Dann gab es sogar Essen aus Porzellantellern und richtiges Besteck. Das war zum einen der Hochzeitstag, der ihr völlig gleichgültig war und auf den sie gerne verzichten konnte. Aber der andere Tag, der war ihr heilig. Das war im Juli, wenn die ersten Hortensienblüten im Garten erstrahlten. An diesem besonderen Tag durfte sie am Fenster stehen und den Hortensienstrauch bewundern, den Josef vor über dreißig Jahren gepflanzt hatte und der von Jahr zu Jahr größer wurde. Dann überkam sie die Sehnsucht nach Rosa, die sie nie mehr sehen würde.

      Endlich war Josef weg. Sie steckte sich den Finger in den Hals und übergab sich im Waschbecken. Dann ließ sie Wasser nachlaufen, denn nichts durfte darauf hindeuten, dass sie sich ihm widersetzte. Erschöpft legte sie sich auf das Bett. Sie starrte zu dem kleinen Kellerfenster, das verschlossen war und nur morgens für die Zeit des Frühstücks geöffnet wurde, während Josef bei ihr blieb. Das Fenster war mit einem Schloss versehen, dessen Schlüssel ihr Mann ständig bei sich trug. Vor Jahren hatte sie versucht, die Scheibe mit dem Stuhl einzuschlagen. Das war ihr nicht gut bekommen, denn Josef war völlig ausgeflippt. Sie hatte eine ordentliche Dosis des Mittels gespritzt bekommen, die Kopfschmerzen waren kaum zu ertragen. Ihr Mann hatte nicht nur das Fenster repariert und dann auch noch vergittert, sondern den Holzstuhl durch einen billigen Plastikstuhl ausgetauscht. Das Bett befestigte er am Boden, der Lattenrost war fest verschraubt. Die wenigen Kleidungsstücke waren von Josef sorgfältig ausgewählt worden und lagen fein säuberlich zusammengelegt in zwei Plastikkörben, die keiner großen Belastung standhielten. Hilde hatte versucht, sich damit die Pulsadern aufzuschneiden, und war kläglich gescheitert. Die wenigen persönlichen Dinge wie Bürste, Shampoo und Seife waren Miniaturausgaben, die Josef regelmäßig ersetzte. Einen Fernseher gab es nicht, dafür brachte ihr Josef jeden Tag die Tageszeitung. Die war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt – und Josef, den sie inzwischen abgrundtief hasste. Warum hatte sie sich damals für ihn entschieden? Sie war hübsch und lebensfroh, sie hätte jeden Mann haben können. Josef hatte ihr den Himmel auf Erden versprochen und sie hatte ihm jedes einzelne Wort geglaubt. Über kleine Meckereien sah sie hinweg, aber die hätten ihr die Augen öffnen müssen. Als sie ihren Kinderwunsch äußerte, stieß sie auf Granit. Er machte ihr unmissverständlich klar, dass er keine Kinder haben wollte. Noch gab sie nicht auf und war sich sicher, dass sie ihn irgendwie umstimmen konnte. Wenn er erst einmal sein eigenes Kind in den Armen hielt, würde er seine Vorbehalte über Bord werfen. Sie wurde schwanger und verlor das Kind, noch bevor man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte. Für sie war das eine Katastrophe, aber für Josef ein Segen. Sie gab ihm die Schuld. Es gab kaum einen Tag, an dem es keinen Streit gab. Dass es ihr gesundheitlich immer schlechter ging, hatte sie nicht gemerkt. Josef machte sich große Sorgen und hoffte, dass sie sich wieder erholte, aber das geschah nicht - die Krankheit zog sie immer weiter nach unten. Er erfüllte ihr jeden Wunsch. Sie gingen spazieren, ins Theater, es gab sogar kleine Ausflüge. Täglich umschmeichelte Josef seine Frau mit kleinen Aufmerksamkeiten, die sie ignorierte oder sich darüber aufregte. Nichts war ihr recht. Unter Menschen war sie charmant und fröhlich, aber sobald die Tür des kleinen Einfamilienhauses im beschaulichen oberbayerischen Tüßling im Landkreis Altötting schloss, entbrannte regelmäßig ein heftiger Streit. Irgendwann fingen sie an, aufeinander loszugehen. Dann geschah das Unglück, an das sie sich nicht mehr erinnern wollte und das sie völlig aus ihrem Gedächtnis strich. Seitdem saß sie in dem Kellerloch, das seitdem ihr Zuhause war – und das waren jetzt einunddreißig Jahre. In den ersten Monaten hoffte sie noch, dass Josef sie doch noch irgendwann freilassen würde. Aber der blieb hart. Sie unternahm mehrere Fluchtversuche, die aber alle misslangen. Vermisste sie denn niemand? Warum suchte keiner nach ihr? Was war mit ihrer Mutter und den Freunden? Josef antwortete nicht auf ihre Fragen. Sie war allein, ganz auf sich allein gestellt. Sie hatte ihren Mann angefleht, sie hatte gebettelt und ihm alles versprochen, aber er gab nicht nach: Sie war seine Gefangene!

      Josef Hiermaier fand einfach keine Ruhe. Die Doku war spannend, aber das Gelächter der neuen Nachbarn nervte ohne Ende. Immer wieder ging er zum Fenster, um zu sehen, was nebenan ablief. Fassungslos musste er mit ansehen, als eine dieser dämlichen Hüpfburgen im Garten aufgebaut wurde.

      „Der Alte von drüben spannt schon wieder!“ Dagmar Steinke stand schon lange am Fenster. Dass die neuen Nachbarn einzogen, freute sie zwar, aber das interessierte sie weniger. „Hiermaier ist echt ein Ekel.“ Dann lachte sie. „Der Kinderhasser wird seine Freude mit den Nachbarn haben.“

      „Du bist echt schlimm, Dagmar!“, mahnte Sabine Thomas. Die Rektorin der Berufsschule Mühldorf konnte sich nach den vielen Monaten des Lockdowns endlich wieder auf einen Regelbetrieb vorbereiten, was sie echt freute. Dieses Nichtstun hatte sie fast in den Wahnsinn getrieben. Sabine Thomas lebte seit fast einem Jahr in ihrem Elternhaus in Tüßling, das sehr lange leer stand. Eigentlich sollte das Haus verkauft werden, aber sie entschied sich dagegen, nachdem sie Dagmar bei sich aufgenommen hatte, denn schließlich brauchten sie eine Bleibe. Die beiden führten ein angenehmes Leben, das keiner missen wollte. Nur noch wenige Monate und Dagmar beendete ihre Ausbildung,