Seelenkerne. Micha Rau

Читать онлайн.
Название Seelenkerne
Автор произведения Micha Rau
Жанр Языкознание
Серия Tommy Garcia
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738079029



Скачать книгу

stehen. Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Es war alles so, wie es sein sollte. Die nahezu undurchdringliche Buchsbaumhecke schützte vor neugierigen Blicken und zog sich bis zum Wald hin. Ich erblickte das Dach des alten Hauses, ein Stück des von Efeu umrankten Putzes und die Kastanienbäume.

      Tommy stieß mich an. „Sieht aus wie immer.“

      Ich spürte, wie Lazy sich neben mir niederließ und beobachtete Jever, der sich ungeduldig durch eine Lücke in der Hecke zwängte.

      „Wie immer?“, grinste ich. „Du meinst, wie fast immer.“

      „Na ja“, gab Tommy zurück. „Jedenfalls ist es kein Trümmerhaufen oder ein Friedhof.“

      Ich nickte. Die Mächte, die über dieses Grundstück herrschten, hatten jedenfalls nicht vor, uns auf die Probe zu stellen. Jetzt, als es einfach nur so aussah wie vor unserem ersten Abenteuer, war ich beinahe enttäuscht. Irgendwie war ich hin und her gerissen zwischen der Aussicht, wieder etwas Aufregendes zu erleben und dem Gefühl, es wäre doch besser, lieber ruhige Ferien zu verbringen ohne in Lebensgefahr zu geraten. Tommy schien es ähnlich zu gehen.

      „Komisch“, meinte er. „Ich hätte fast wetten können, dass uns eine Überraschung erwartet. Nach dem Traum wollte ich unbedingt hierher.“

      Er blickte die Straße hinunter. „Was meinst du, gehen wir rein, uns mal ein bisschen umschauen?“

      „Hm“, machte ich. „Jever ist ja sowieso schon drin.“

      „Genau“, grinste Tommy. „Ohne uns findet er schließlich nicht mehr raus, stimmt’s?“

      Ich musste lachen, aber es kam nicht so richtig von Herzen. Das Grundstück verursachte mir jedes Mal ein mulmiges Gefühl. Und zwar seit dem Moment, als Janine damals ins Haus gefallen war und ihr Unterkörper zappelnd aus der Wand geragt hatte.

      Kopfschüttelnd bückte ich mich, zog Lazy an den Ohren, dass er aufstand, und schob ihn dann mit beiden Händen durch die Hecke, damit er sich zu Jever gesellte. Tommy und ich mussten außen herumgehen. Die Hecke zog sich zwar auch am Wald entlang, doch da gab es eine Stelle, an der sich ein Mensch hindurchzwängen konnte. Als wir sie erreicht hatten, schob ich für Tommy die Zweige beiseite, und er quetschte sich seitlich durch. Dann tat er dasselbe für mich, und Sekunden später standen wir nebeneinander auf der Wiese, die einen Großteil des Grundstücks umfasste.

      Spannung erfasste mich. Ich spürte, wie sich auf meinen Handflächen ein feiner Schweißfilm bildete. Nervös blickte ich mich um.

      „Ich glaube nicht, dass uns etwas erwartet“, sagte Tommy. „Was meinst du, wollen wir das Grundstück ablaufen und dann einmal um das Haus gehen?“

      „Okay. Aber lass uns zusammenbleiben.“

      „Klar. Genug Zeit haben wir ja. Halt die Augen auf!“

      Wir schlenderten los. Tommy hielt die Augen rechts und ich links, damit uns nichts entgehen konnte.

      Ich warf einen Blick auf unsere Hunde. Lazy hatte sich mal wieder hingelegt und beobachtete, was wir taten. Jever saß mit dem Rücken zu uns gewandt da und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf das Haus. Es schien, als würde er uns beim Suchen helfen. Ich lächelte über ihn, aber dann nahm ich meine Suche umso konzentrierter wieder auf.

      Wir ließen uns eine geschlagene halbe Stunde Zeit. Langsamen Schrittes umrundeten wir das Haus. Wir liefen über wucherndes Gras, das wir bei jedem Schritt niedertraten und das mit vielen Wildblumen durchsetzt war. An den Rändern wuchsen Brennnesseln, vor denen wir uns in acht nehmen mussten. Die Buchsbaumhecke am Grundstücksrand konnte nichts Aufregendes verbergen, und die großen, uns wohl vertrauten Kastanienbäume wie auch die wirr ineinander rankenden Brombeersträucher auch nicht. Es sei denn, jemand hätte Diamanten versteckt. Aber daran glaubte ich nicht. Mir tränten die Augen vom konzentrierten Hinschauen, aber ich konnte nichts entdecken, das sich von einem normalen verwilderten Grundstück abhob.

      Schließlich hatten wir die Runde vollendet und standen wieder an unserem Ausgangspunkt.

      „Einmal nichts“, bemerkte Tommy und holte tief Luft.

      „Jetzt das Haus?“, fragte ich und sah verblüfft, dass Jever immer noch an derselben Stelle saß und die Wand anstarrte. Ich folgte seinem Blick, aber die Hauswand sah ganz normal aus.

      Ich stieß Tommy an. „Schau mal, dein Hund meditiert!“

      „Vielleicht hat er sich bei Lazy angesteckt!“, lachte mein Freund. Doch dann kniff er die Augen zusammen und fixierte das Haus. „Vielleicht wittert er etwas. Komm, lass uns näher rangehen. Zu blöd, dass ich meine Machete nicht dabei habe.“

      Die Machete hatte ihm sein Stiefvater Jesse einmal aus Madagaskar mitgebracht. Kein anderer Junge hätte mit so einer Waffe herumlaufen dürfen. Sie war scharf wie eine Rasierklinge. Zur Not hätte man sich den Weg durch einen Dschungel mit ihr freischlagen können. Jesse vertraute Tommy vorbehaltlos. Mein Freund konnte die Machete jederzeit ohne zu fragen überallhin mitnehmen. Aber natürlich nahm er sie nur mit, wenn wir sie wirklich brauchten. Nur heute Morgen lag sie zu Hause, und gerade jetzt hätten wir sie gut gebrauchen können, denn die Brombeeren hatten das Haus buchstäblich eingewickelt.

      Als wir Jever erreicht hatten, winselte der Kleine ein bisschen, dann verstummte er. Noch immer schaute er am Haus empor. Und dann entdeckte ich es.

      „Da oben!“, rief ich aufgeregt. „Ein Loch!“

      Tommy folgte meinem Blick. Dicht unter der leicht überhängenden Dachkante, kaum sichtbar durch den Schatten, den die Kante warf, befand sich ein kleines, scharf abgegrenztes Loch. Es war nicht kreisrund, sondern rechteckig. Es fiel wahrlich nicht auf. Kein Wunder, dass wir das vorher nicht entdeckt hatten.

      „Sieht aus, als würde ein Mauerstein fehlen“, murmelte Tommy.

      Ich musste ihm Recht geben. Es sah tatsächlich so aus, als würde ein Mauerstein fehlen. Sauber herausgebrochen, oder besser herausgetrennt, denn das Loch besaß keine ausgefransten Bruchstellen. Unwillkürlich fuhr mein Blick nach unten, ob ich den Stein vielleicht auf der Erde liegen sehen würde. Aber die Brombeeren waren so dicht, dass man nichts erkennen konnte.

      „Wenn er heruntergefallen ist, kommen wir jedenfalls nicht ran“, meinte ich. „Und ein fehlender Stein ist doch auch nicht so wichtig, oder?“

      Tommy schaute mich mit einem Blick an, den nur er drauf hatte. „Ein fehlender Stein in diesem Haus ist wichtig!“, sagte er bestimmt. „Und Jever hat etwas gewittert, da bin ich sicher. So klug mein Hund auch ist, ein Loch allein wäre ihm sicher nicht aufgefallen. Er muss etwas riechen.“

      „Riechen?“ Eine Gänsehaut strich meinen Rücken herunter. „Was denn riechen?“

      Tommy zuckte die Schultern. „Was weiß ich? Vielleicht strömt aus dem Loch ein Geruch, den er von unseren Abenteuern her kennt. Oder was ganz anderes. Ich weiß es doch auch nicht.“

      „Und was machen wir jetzt?“, fragte ich aufgeregt. „Meinst du, das ist wieder ein Rätsel?“

      Tommy seufzte. „Unsere Träume … und jetzt das Loch hier … es kann schon sein, das man uns ein neues Rätsel stellt. Ich weiß nur nicht, warum.“

      Ich hatte eine Idee. „Dann lass uns Brötchen holen und alles Janine und Sanne erzählen!“

      Tommy musste lachen. „Ich hab auch Hunger! Und wenn es ein Rätsel ist, wird es so schnell nicht weglaufen. Du hast Recht, wir sollten alle darüber reden. Ich bin gespannt, was die beiden dazu sagen. Vielleicht sind wir auch nur so aufgeregt und sehen in jedem Steinchen ein Rätsel, weil wir schlecht geträumt haben.“

      Gerade wollte ich ihm antworten, als er mir zuvorkam. „Ja, ja, ich weiß! Beide dasselbe! Irgendeinen Grund muss es für unsere Alpträume geben. Aber der Stein könnte schon immer gefehlt haben, und es ist uns nur noch nie aufgefallen.“

      „Vielleicht liegt er da im Gestrüpp“, wandte ich ein. „Wir könnten nach dem Frühstück noch mal mit der Machete herkommen und nachsehen.“