IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner

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Название IM ANFANG WAR DER TOD
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия Anja Spangenberg
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750214316



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die ganze Zeit kein einziges Wort, doch Oliver erzählte an ihrer Stelle, dass sie vor vier Monaten neunzehn Jahre alt geworden war und an der Akademie der Bildenden Künste freie Kunst studieren wollte. Ein Studium, das neben der Malerei und der Bildhauerei auch Bühnenbild und -kostüm, Fotografie, Medienkunst und andere Kunstrichtungen umfasste.

      Judith nickte mehrere Male zustimmend, beteiligte sich aber ansonsten nicht aktiv an der Unterhaltung. Anja begann sich unwillkürlich zu fragen, ob sie überhaupt sprechen konnte. Aber wenn sie stumm wäre, hätten die anderen das doch bestimmt erwähnt.

      Oliver war dafür umso redseliger. Anja wunderte sich, dass er so gut deutsch sprach, und fragte ihn danach.

      »Wir unterhielten uns zu Hause hauptsächlich auf Deutsch und auf Englisch«, erklärte er. »Außerdem besuchten Judith und ich die Deutsche Internationale Schule in Kapstadt. Wir wurden dort sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache unterrichtet und machten das Deutsche Internationale Abitur.«

      Das erklärte auch, warum sie die deutsche Sprache vollkommen akzentfrei beherrschten und so einfach an einer deutschen Hochschule studieren konnten.

      Da Anja wusste, dass Olivers und Judiths Mutter bei einem Unfall gestorben war, erkundigte sie sich nicht nach ihr, um nicht versehentlich alten Wunden aufzureißen. Außerdem wurde in diesem Moment ohnehin das Essen serviert, worauf sich alle vorwiegend auf ihre Mahlzeit konzentrierten und weniger sprachen.

      Judith pickte allerdings nur wie ein besonders wählerischer Vogel in ihrem Salat herum und aß kaum etwas davon. Ab und zu ertappte Anja ihre Cousine dabei, dass diese sie anstarrte, als bemühte Judith sich, Anja besser einzuschätzen. Anja wiederum fühlte sich jedes Mal unbehaglich, wenn sie feststellte, dass Judith sie beobachtete. Sie wurde aus ihr einfach nicht schlau. Außerdem sammelte Judith mit ihrem insgesamt eher merkwürdigen Verhalten nicht unbedingt Sympathiepunkte bei ihr.

      Während des Essens plauderten sie erneut vorwiegend über Belanglosigkeiten. Christian fragte Dagmar über gemeinsame Bekannte aus der Vergangenheit aus. Dann erzählte er, dass er seinen Kindern in den letzten drei Tagen München gezeigt habe. Dabei seien allerdings nicht nur die typischen Sehenswürdigkeiten von Interesse gewesen, die auch Gegenstand jeder Touristenführung sind, sondern vor allem die Orte, die er aus seiner Jugend kannte.

      »Ich habe ihnen zum Beispiel gezeigt, wo mein Bruder und ich geboren wurden und aufgewachsen sind. Dann natürlich die Schulen, auf die ich ging. Außerdem das Haus, in dem ich zur Miete gewohnt habe, bevor ich nach Südafrika ging. Ich ging mit ihnen sogar zu der Kirche, in der unsere Eltern mit Frank und mir sonntags immer die Messe besuchten und in der wir sogar ein paar Jahre Ministranten waren.«

      »Welche Kirche war das denn?«, fragte Anja und bemühte sich, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. Sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört und nachgedacht. Doch beim Wort Kirche hatten bei ihr sofort die Alarmglocken geläutet.

      »Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Aber es handelt sich um die Kirche in Obermenzing, in der, wenn ich mich richtig erinnere, du damals getauft wurdest und später auch deine Erstkommunion gefeiert hast. Wieso fragst du?«

      »Nur aus Interesse«, erwiderte Anja abwiegelnd und machte eine Geste, als wäre es nicht so wichtig. Täuschte sie sich, oder hatte sie es in Christians Augen für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzen sehen, als würde er sie insgeheim verhöhnen. Sie war sich allerdings nicht sicher und konnte es sich genauso gut auch nur eingebildet haben.

      Dennoch!

      Dass er ausgerechnet die Kirche erwähnt hatte, in der sie Pfarrer Hartmann getötet hatte, war in ihren Augen hochgradig verdächtig. Hatte sie also tatsächlich recht damit, dass er der geheimnisvolle Unbekannte war, der ihr die Polaroid-Aufnahme ihres sterbenden Vaters und die letzten beiden E-Mails geschickt hatte.

      Der Mörder meines Vaters!

      Sie erschauderte.

      Er wandte den Blick ab, als Dagmar eine Frage nach einer gemeinsamen ehemaligen Bekannten stellte, von der sie schon lange nichts mehr gehört hatte. Was Christian ihr antwortete, bekam Anja allerdings nicht mit, da sie nicht auf seine Worte achtete. Ihr Blick fiel zufällig auf Judith, die sie erneut mit gerunzelter Stirn ansah, als würde sie sich fragen, aus welchem Grund Anja bei der Erwähnung der Kirche nachgefragt hatte. Oder als würde sie vermuten, dass mehr hinter Anjas Frage steckte, als sie zugeben wollte.

      Unsinn!, sagte sich Anja. Sie sollte nicht wieder damit anfangen, jeden zu verdächtigen, nur weil er sich merkwürdig verhielt oder komisch aus der Wäsche guckte. Das war schon im Fall des Apokalypse-Killers gründlich in die Hose gegangen.

      Sie hätte von Christian natürlich gern erfahren, worüber er und ihr Vater sich damals so heftig gestritten hatten. Doch dies war ihrer Ansicht nach weder der richtige Anlass noch der richtige Ort dafür. Stattdessen hatte sie vor, irgendwann in naher Zukunft nach Möglichkeit unter vier Augen mit ihm über dieses Thema zu sprechen.

      Nachdem sie gegessen hatten und die Bedienung die leeren Teller und die kaum angerührte Salatschüssel abgeräumt hatte, tranken sie Cappuccino oder Espresso. Inzwischen bestritt vorwiegend Christian die Unterhaltung und erzählte Geschichten aus der Zeit, als sein Bruder und er noch Kinder gewesen waren, und vor allem darüber, was sie damals alles angestellt und ausgeheckt hatten.

      Anja fiel es schwer, sich ihren Vater als Kind vorzustellen. Dennoch brachte ihr Onkel mit seinen Geschichten auch sie zum Schmunzeln. Sie behielt zwar ihren Verdacht im Hinterkopf und Christian weiterhin aufmerksam im Auge, doch im Laufe des Abends wurde ihr bewusst, dass sie ihren Onkel noch immer gern hatte. Deshalb fragte sie sich allmählich, ob sie nicht vielleicht doch die falschen Schlussfolgerungen gezogen hatte und er schlicht und ergreifend nichts mit dem Tod ihres Vaters zu tun hatte.

      Aber dann fiel ihr ein, dass sie ihren Nachbarn Raphael Guthmann ebenfalls gemocht hatte, ohne bis zuletzt auch nur zu ahnen, dass er der Apokalypse-Killer gewesen war.

      II

      Da ihre Mutter zu Fuß gekommen war, bot Anja ihr an, sie nach Hause zu fahren. Doch Dagmar lehnte dankend ab. Ein kleiner Spaziergang nach dem Essen täte ihr jetzt gut, meinte sie. Außerdem waren es vom Restaurant bis zu ihrem Zuhause in der Belastraße nur fünfhundert Meter. Also verabschiedeten sie sich vor der Tür voneinander. Und während ihre Mutter losmarschierte, um an der nächsten Ampel die Straße zu überqueren, ging Anja zu ihrem Auto, das sie auf dem Parkstreifen am Rand der Straße abgestellt hatte, und stieg ein.

      Bevor sie losfahren konnte, kamen bereits Christian, Oliver und Judith aus dem Gebäude. Judith hatte noch auf die Toilette gehen müssen, und ihr Vater und ihr Bruder hatten beschlossen, auf sie zu warten. Deshalb hatten sich Anja und ihre Mutter drinnen von ihnen verabschiedet und waren gegangen.

      Die drei gingen nicht in Anjas Richtung und sahen sie daher auch nicht im Auto sitzen. Stattdessen wandten sie sich nach links und marschierten zum Parkplatz neben dem Gebäude.

      Anja fuhr noch nicht los, sondern wartete.

      Es dauerte nicht lange, bis ein weißer BMW X6 vom Parkplatz fuhr und nach links auf die Straße einbog.

      Ohne darüber nachzugrübeln, was sie da tat, startete Anja ihren MINI. Sie wartete, bis mehrere Fahrzeuge an ihr vorbeigefahren waren, bevor sie aus der Parklücke ausscherte, kurzerhand auf der Straße wendete und dem BMW hinterherfuhr.

      Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum sie Christian, Oliver und Judith folgte. Wahrscheinlich wollte sie einfach nur das Haus sehen, das ihr Onkel gekauft hatte und in dem die drei wohnten.

      Da sie vorhin nicht einmal in ihre Richtung geschaut hatten, wussten sie demnach auch nicht, welchen Wagen Anja fuhr. Es war also unwahrscheinlich, dass sie Anja entdeckten. Falls allerdings ihr Onkel tatsächlich der Mörder ihres Vaters und der geheimnisvolle Absender der beiden Mails war, dann hatte er sie natürlich heimlich beobachtet und wusste daher über ihren Wagen Bescheid. Aber dieses Risiko musste sie eingehen, wenn sie mehr über ihn erfahren wollte.

      Sie achtete darauf, dass sich immer mehrere Autos zwischen ihnen befanden, die den Insassen des X6 die Sicht auf ihren MINI nahmen. Hin