Название | Tschêl |
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Автор произведения | Reinhold F. Schmid |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754119648 |
Plötzlich stutzt er. Die Frau zwei Reihen vor ihm, auf der anderen Seite des Kirchenschiffes, sieht die nicht aus wie die Wandrerin, die er letzte Woche mitgenommen hat? Doch heute trägt sie keine türkisfarbene Pelerine, sondern einen hellbraunen Mantel, den sie sich über die Knie gelegt hat.
In der Kirche wird es still, die beiden Musiker treten auf, das Konzert beginnt.
Als er die Frau zum Bahnhof nach Scuol gebracht hat, haben sie während der Fahrt kaum gesprochen. Im Grunde weiß er nichts von ihr, nur, dass sie gerne in der Natur ist und Interesse an Kunst hat.
Nach einem kurzen Applaus setzen die Musiker zum nächsten Stück an: Salut d’Amour, die Liebesgrüße, die Elgar 1888 seiner Verlobten Caroline widmete. Stefan lehnt sich zurück.
Seraina rutscht ein wenig hin und her. Warum sind Kirchenbänke immer so hart und unbequem?
Na ja, genau genommen sitze ich selten in der Kirche. Eigentlich schade. Die Akustik ist toll und der Raum strahlt Ruhe und Geborgenheit aus. Ich sollte öfters hierherkommen, wenn mir in meiner kleinen Wohnung die Decke auf den Kopf fällt. In den vergangenen Wochen habe ich mich rasch eingelebt in diesem pittoresken Engadinerdorf mit den freundlichen Bewohnern. Die Bäckerin darf ich bereits als Freundin bezeichnen. Sie hat mich mit einigen sympathischen Menschen bekannt gemacht. Es ist nicht einfach gewesen, weg vom Bodensee zurück in die Enge der Berge zu kommen, obwohl ich hier in der Nähe aufgewachsen bin. Doch im Engadin lebt es sich ganz anders als am See in der Nähe zu Österreich und Deutschland mit dem großen kulturellen Angebot.
Im Sommer und im Winter ist es toll hier, aber von März bis in den Mai ist es eher trübe. Besonders während den vergangenen Regentagen haben mich die eigenen vier Wände beinahe erdrückt. Auf den Wanderungen in der Umgebung und im Nationalpark konnte ich wenigstens durchatmen. Dennoch weiß ich nicht, zu wem ich gehöre. Adi schweigt und schmollt, das ist mir eigentlich egal. Die Zeit mit ihm ist vorbei. Nicolina, meine Freundin aus der Schulzeit, hat mehrmals angerufen. Sie ist eine wichtige und vielbeschäftigte Chefsekretärin. Gleichwohl hat sie sich viel mehr Zeit für mich genommen als in den letzten Jahren. So lieb! Eine richtige To-do-Liste hat sie mir gemacht, worauf ich nun als Single achten muss. Nicht nur, dass ich mich zwar frei treffen darf, mit wem ich will, und trotzdem nicht sofort in die nächste Beziehung schlittern soll. Auch die finanziellen Aspekte, wie ich mich besser versichern kann und worauf ich bei der Ferienplanung als Alleinreisende achten soll. Die Fürsorge von Nicolina lässt mich staunen. Ich habe sie oft als ziemlich egoistisch und selbstzentriert wahrgenommen.
Der Applaus der Zuhörer erfüllt den Raum und katapultiert Seraina aus ihren Gedanken zurück in die Kirche. Die „Liebesgrüße“ sind verklungen, zum Abschluss spielen die Musiker eine Sonate von Bach.
Doch was soll dieser Brief von Robert? So vorwurfsvoll! Ich soll öfters zurück an den Bodensee kommen. Er will mich noch häufiger auch privat treffen. War es richtig, dass ich damals nach der Trennung zweimal eine Einladung zum Essen bei ihm angenommen habe? Es war eine Geste der Dankbarkeit von ihm, er wollte mich trösten und mir Mut machen. Aber jetzt fordert er mehr Aufmerksamkeit. Wie komme ich bei ihm zurück zu einem Patienten-Verhältnis? Ist das noch möglich?
Dieses Musikstück klingt anders als die vorangehenden. Seraina lässt die anstrengenden Gedanken los und konzentriert sich auf die Musik. Sie hat schon lange keine klassische Musik mehr gehört. Ihr Bruder hat früher Geige gespielt, und mit der Mutter hat sie Konzerte besucht. Wie viele Jahre ist das her? Solche Musiker hat sie jedoch noch nie gehört! Sie drücken eine Leidenschaft und Tiefe aus, die sie manchmal beim Malen verspürt. Die Klänge berühren ihr Herz. Wo führt ihr Leben hin?
Im dritten Satz beginnt die Geige mit einer außergewöhnlichen Triolenmelodie, die sie nach ein paar Takten an das Piano abgibt. In immer neuen Variationen entsteht ein inniger Zwiegesang.
Dann wird das Finale vorbereitet, das man sich brillanter kaum vorstellen kann.
Auch die Frau auf der anderen Seite sitzt nicht mehr ruhig und bewegt ihren Körper im Takt. Stefan beobachtet sie und sieht ihre hohen Wangenknochen und die schmale Nase. Ja, es ist die Frau, die er in seinem Auto mitgenommen hat. Die letzten Töne verklingen, der Applaus füllt die Kirche. Stefan ist mit seinen Gedanken woanders. Er möchte im Kirchengang mit dieser Frau zusammentreffen. Wenn er den Besuchern aus der nächsten Bank den Vortritt lässt und erst dann losgeht, wenn sie in den Mittelgang kommt, sollte das klappen.
„Guten Abend“, begrüßt Stefan die erst flüchtig Bekannte.
„Ah, guten Abend, welcher Zufall!“
Beim Hinausgehen sprechen sie über die Musik des Abends.
„Haben Sie wieder einen weiten Heimweg?“, fragt Stefan.
„Nein, ich wohne hier in Surain und komme gut nach Hause. Doch wenn es so weitergeht, werden wir uns bestimmt wiedertreffen.“
„Ja, das mag sein. Ich bin in Scuol zu Hause. Übrigens, mein Name ist Stefan.“
„Freut mich, ich bin Seraina. Gute Nacht, Stefan!“
„Gute Nacht, Seraina!“
Längst ist Mitternacht vorüber, Stefan wälzt sich im Bett auf die andere Seite und zuckt mit den Beinen. Über seine Lippen kommen Geräusche, kurze Schreie.
Mit einem Arm schlägt er um sich und schreit: „Rolf, lass mich, lass mich los!“
Ruckartig setzt sich Stefan auf, wischt sich durch die Haare und verlässt das Bett.
Er setzt sich im Dunkeln auf seinen Freischwinger. Hastig streicht er sich über sein Gesicht. Was habe ich geträumt? Als es vom nahen Kirchturm dreimal läutet, legt sich Stefan wieder ins Bett. Neulich fragte ein Kollege vom Nationalparkzentrum, ob er einmal am Spielabend dabei sein möchte. Dann könne er sicherlich besser schlafen. Doch er mag keine Spiele, zumindest nicht solche, die man am Stubentisch auf einem Brett oder mit Karten spielt. Er verscheucht diese Gedanken, und augenblicklich kommen ihm die letzten Worte von Seraina in den Sinn: „Gute Nacht, Stefan, gute Nacht, Stefan, gute Nacht, Stefan.“
7. Eine unangenehme Begegnung
Am nächsten Morgen nimmt Stefan in Ardez an einer Abklärung teil über die Biodiversität der dortigen Wiesen. Bei der Burg Steinsberg entdeckt er den österreichischen Drachenkopf. Diese seltene Pflanze kommt sonst nur noch im Wallis vor. Am Nachmittag wandert er über die Terrassenlandschaft oberhalb von Ramosch.
Hier hat Stefan im letzten Sommer den Baumweißling getroffen, ein filigraner Schmetterling. Das stark gefährdete Braunkehlchen kann man ebenfalls antreffen. Doch jetzt, Ende Mai, ist es noch zu früh.
In der Bäckerei besorgt sich Stefan eine köstliche Spezialität. Am Wochenende wird er seinen jüngeren Sohn treffen. Bei der Terminvereinbarung am Telefon hat dieser gefragt, ob er ihm eine Schachtel von den feinen Schokoköpfen mitbringen könnte.
Nun setzt er sich in sein Auto und fährt langsam rückwärts aus dem Parkfeld.
„Willst du mich überfahren? Hey, kannst du nicht aufpassen, Steff?“
Stefan tritt auf die Bremse und schaut auf die andere Wagenseite: Carlo, ein Arbeitskollege. Der Einzige, den er nicht mag, und wohl der Einzige, der ihn nicht mag. Stefan hat ihn tatsächlich nicht gesehen. Woher kommt er so plötzlich?
„Hallo Carlo, hast du auch von den feinen Schokoköpfe gekauft? Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?“
„Ich habe mein Auto bei der Kirche; ich kann selbst fahren.“
„Du hast eine tolle Kamera. Mit diesem Teleobjektiv kriegst du den kleinsten Vogel bildfüllend. Ist Fotografieren dein Hobby?“
Mit verkniffenen Augen schaut Carlo ganz kurz ins Auto.
„Du stellst zu viele