Jenseits der Tür. Bernhard Höfellner

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Название Jenseits der Tür
Автор произведения Bernhard Höfellner
Жанр Языкознание
Серия Kurzgeschichten
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750235243



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in einen Wald, der mich töten wollte.

      Ich war mir sicher, dass er das wollte. Er hatte es geplant! Sicher! Es war seine feste Absicht seit dem Moment, als ich ihn das erste Mal nach meiner Reha betreten hatte.

      Ich war nach vierwöchiger Reha Maßnahme nach Hause entlassen worden und hatte mich auf meine Familie, zwei Kinder, Gattin, Katze, Hund, gefreut. Tags darauf, es war früher morgen, kaum zu glauben, dass es erst gestern war, verließ ich vor dem Frühstück das Haus. Hatte meine Sportsachen angezogen und war mit flotten Schritten den kleinen Hügel aus dem Dorf hinaus, hoch in den Wald marschiert. Die Luft war klar, die Vögel sangen und doch war niemand in den Gärten oder Einfahrten der Nachbarhäuser zu sehen.

      Wahrscheinlich war es doch zu früh am Morgen oder zu spät, so dass alle bereits in ihren Büros, Werkstätten oder an ihren sonstigen Arbeitsplätzen waren. Seltsam, dass ich nicht weiß, welcher Tag gestern war. Dienstag? Dann war jetzt, heute, Mittwoch?

      Die ersten zweitausend Schritte gingen wie von selbst. Aus dem Kopfhörer drang der sanfte Rhythmus klassischer Musik. Gustav Mahler. Ich war beschwingt und freute mich bereits auf das Frühstück mit meinen Kindern. Ich genoss die frische laue Morgenluft. Genoss den Tau auf dem Moos und in den Netzen der Spinnen. Es roch nach Sommer.

      Nach weiteren zweitausend Schritten setzte plötzlich der Kopfhörer aus. Ich warf einen Blick auf meinen MP3-Player mit Diktierfunktion. Er lief weiter. Aus dem Kopfhörer kam jedoch kein einziger Ton. Vermutlich war der Akku nicht geladen. Ich ärgerte mich kurz, stopfte das schnurlose Teil in meine Tasche, stoppte den Player und dehnte mich an Ort und Stelle.

      Da fiel es mir das erste Mal auf: Es war still. Völlig still. Kein Blatt rührte sich im Wind. Kein Luftzug streifte meine Wangen. Kein Vogel sang oder zwitscherte. Kein Rascheln im Gebüsch. Kein verräterisches Knacken im Unterholz. Es war völlig und absolut still. So musste sich ein Astronaut fühlen, wenn er in der Leere des Alls seinen Weltraumspaziergang machte. Aber so sollte sich kein Spaziergänger in einem mitteleuropäischen Mischwald fühlen. Verloren und völlig allein gelassen umgeben von Fichten und Buchen und Birken. In absoluter unheimlicher Stille!

      Ich machte einen Schritt und atmete dabei lautstark ein. Damit wollte ich mich gegen die Stille stemmen, dem Wald sagen: Sieh her! ICH BIN DA!

      Aber nichts! Der Wald schwieg und die Welt mit ihm. Noch nicht einmal das ferne Rauschen der Autobahn, das dumpfe Dröhnen des Luftverkehrs über mir - es gab kein einziges wie auch immer geartetes Geräusch, abgesehen von jenen, die ich zu fabrizieren in der Lage war. Ich begann zu pfeifen. Ich hörte bald wieder auf damit. Es macht dir mehr Angst allein zu pfeifen, als gar nichts zu hören. Es ist das Eingeständnis an sich selbst, jetzt völlig allein zu sein und dass dies nicht in Ordnung war.

      Es war absolut nicht in Ordnung! Ich griff nach einem herunterhängenden Ast und riss so fest daran, wie ich nur konnte. Irgendetwas musste ich hören! Etwas, das ich tat, musste doch die Tiere aufschrecken, die mich zweifelsohne in nächster Nähe umgaben.

      Aber der Wald blieb still. Ein letztes Mal sah ich mich um. Hundert Meter lagen vor mir zur ersten Weggabelung. Vier Kilometer geradeaus würden mich an den Rand der nächsten Ortschaft führen, einer stillgelegten Kiesgrube. Links führte ein Weg zwei Kilometer fast schnurgerade zu einem kleinen Bachlauf und rechts waren es drei Kilometer, bis der Forstweg eine große Kurve nach links machen würde und dann vor einem umzäunten Trafohäuschen endete. Das alles wusste ich. Was jetzt?

      Der Weg, den ich gekommen war! Er führte mich zurück in eine Welt voller Geräusche, eine Welt voller Leben! Ich riss noch einmal aus purem Trotz an dem tiefhängenden Ast und erschauderte, wie sehr das verursachte Geräusch vom dumpfen Wald verschluckt wurde. Es gab keinen Nachhall. Das Rascheln und Knacken erstarb fast augenblicklich.

      So wandte ich mich, nicht ohne Angst, meinem Nachhauseweg zu, der sich nun vor mir erstreckte. Viertausend Schritte, das entsprach etwas mehr als drei Kilometern. Davon fast zwei Kilometer durch den Wald, diese Wand aus Stille. War der Wald seit meinem Betreten so still? Ich hatte keine Ahnung. Verfluchte Kopfhörer. Verfluchter Gustav Mahler. Langsam beschleunigte ich meinen Schritt. Die Bäume links und rechts kamen mir mit einem Male völlig neu und fremd vor. Es gab keine Lücken zwischen ihnen, durch die man den fernen Himmel sehen hätte können. Wo stand die Sonne? Es war früh. Sie schien, jenseits der Bäume. Sie sollte im Osten sein, auf dem Weg nach Süden. Sie sollte also links hinter mir stehen. Doch ich warf keinen Schatten. Jeder Schatten den ich werfen hätte können, wurde von den Schatten der stillen Bäume verborgen. Und über allem diese verfluchte Stille!

      Ich verfiel in einen leichten Laufschritt. Ich musste raus aus diesem Wald. Vor mir müsste gleich die Kurve nach rechts kommen. Ich würde ein Feld passieren, eine kleine Lichtung am Waldrand. Da würde ich Sonne haben, wieder einen Schatten. Immer schneller setzte ich einen Fuß vor den Anderen und lief. Schweiß rann mir Rücken und Gesicht. Gleich würde die Kurve kommen. Doch warum sah ich keine? Wo war die Lichtung mit dem kleinen Feld auf dem mal Weizen, mal Gerste und mal Raps gepflanzt wurde? Kannte der Bauer um die Stille in diesem Wald?

      Ein Zerren in meiner linken Wade kündigte einen Krampf an. Ich hielt dagegen und lief. Schneller werdend wollte ich diese Kurve erreichen, die nicht kam! Das Feld, die Sonne, die Kurve, der Weg aus diesem Wald. Meine Schritte verhallten keine handbreit um meinen Körper. Kein Widerhall aus dem Wald begleitete mich. Mein Schnaufen und Keuchen und Stöhnen umhüllte mich wie eine dumpfe Glocke. Flüssigkeit lief mir über das Gesicht. Es war nur zum Teil der Schweiß. Ich heulte, war verzweifelt, hatte Angst. Ich lief und lief und hoffte auf die Lichtung mit dem Feld. Hoffte, einen kurzen Blick auf blauen Himmel aber wohin ich schaute, sah ich nur dichte Blätter oder das dunkle Grün der Fichten.

      Ich blieb stehen. Stoppte aus vollem Lauf und ging in die Hocke. Ich sog mit tiefen Atemzügen Luft in meine Lungen. Diese brannten von der ungewohnten Anstrengung. Nur sehr langsam beruhigte sich mein Puls. Ein Blick auf meine Smartwatch verriet mir, dass ich seit meiner Umkehr viertausendfünfhundert Schritte gelaufen war. Ich hätte längst zuhause sein müssen.

      War ich falsch abgebogen? Hatte ich mich von der Stille so verunsichern lassen, dass ich die falsche Richtung eingeschlagen habe? War ich so versunken in Gedanken und Musik, dass ich den Wald durch einen anderen Weg, als den Üblichen betreten hatte?

      Alle schien mir möglich. Nichts davon plausibel. Ich lief auf einer Straße, die kein Ende nahm. Stand in einem Wald, der keinen Himmel hatte. Und ich schrie in eine Stille, die mich nicht hören konnte.

      Erschöpft lehnte ich mich an einen Baum und glitt an seinem Stamm zu Boden, bis ich saß. Weiches grünes klammes Moos empfing meinen müden Körper. Nur zehn Minuten ausruhen, zu Kräften kommen, dann würde ich mein Glück in der anderen Richtung versuchen. In Gedanken lief ich den Weg durch den Wald ab, vorbei an drei weiteren Gabelungen, immer geradeaus, durch eine kleine Senke, eine sanfte Anhöhe hinauf, bis sich links die stillgelegte Kiesgrube öffnete. An deren Rand entlang, mit Blick auf blauen Himmel, die Bäume hinter mir, musste ich nur noch wenige hundert Schritte laufen, bis ich die ersten Häuser rechts von mir zu sehen bekam. Der Kindergarten schloss sich gleich nach dem Ortsschild an, eine Bäckerei gleich gegenüber. Dort würde ich mir Kaffee holen und zuhause anrufen, um mich abholen zu lassen.

      Nach fast einer Stunde stand ich schließlich auf. Ich fühlte mich unendlich müde. Meine Waden brannten. Das konnte unmöglich von der Anstrengung herrühren. Ich war zwar untrainiert, aber nach vier Wochen Reha war ich fitter denn je.

      Es war die Stille. Sie saugte mich aus, zehrte an meinen Reserven. Leichte Stretch- und Dehnübungen sollten mich vor Krämpfen bewahren, dann lief ich in leichtem Tempo los. Ich passierte die erste Gabelung - links zum Bachlauf, rechts zum Trafohäuschen - und ich hatte das Gefühl, wieder in Form zu kommen. Wurde es nicht auch heller? Während ich lief, achtete ich nicht mehr auf die Stille. Außer meinen Schritten, meinem Atem und dem metallischen Klimpern meiner Schlüssel blendete ich alles aus. Meinen Blick fest auf den Weg vor mir gerichtet lief ich weiter. Jetzt müsste eigentlich eine der nächsten Weggabelungen kommen. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, vor mir konnte ich keine Gabelung ausmachen. Der Weg führte sanft ansteigend schnurgerade durch den stillen Wald. Ich verscheuchte die Gedanken an die Stille und summte ein paar Takte aus Mahlers dritter Symphonie.