Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Название Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen
Автор произведения Sibylle Reith
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783754949412



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Die Ansicht, dass deren Produktion nur im ZNS [Zentralnervensystem], der NNR [Nebennierenrinde] und dem sympathischen Nervensystem erfolgt, ist überholt. KA und ihre Rezeptoren werden von einer ganzen Reihe der Immunzellen produziert. Die andauernde Stressreaktion durch KA hemmt die Immunfunktion. [...] Verstärkt wird er bei den Menschen, die eine genetisch geminderte Funktion der Catechol-O-Methyltransferase (COMT) aufweisen, was bei ~15 % der Bevölkerung der Fall ist.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 3.1.7/2 Müller

      COMT kann in verschiedenen Gen-Varianten vorliegen. Entsprechend werden zwei unterschiedlich aktive Formen des COMT-Enzyms gebildet – „Val“ oder „Met“. Die Val-Variante des Enzyms ist bis zu vierfach aktiver als die Met-Variante. Da jedes Gen in zwei Kopien vorliegt, gibt es Menschen, die zwei Val-Varianten, andere, die zwei Met-Varianten haben, sowie solche, die beide Enzymarten besitzen. Durch eine genetische Untersuchung kann geklärt werden, ob ungünstige Genvarianten vorliegen.

      Systemischer Einfluss auf das Immunsystem

      Sowohl das angeborene wie auch das erworbene Immunsystem werden durch Katecholamine direkt beeinflusst. B-Lymphozyten, T-Lymphozyten, Natürliche Killerzellen (NK-Zellen), Dendritische Zellen und Makrophagen haben Rezeptoren für diese Botenstoffe. Darüber hinaus können Lymphozyten selbst Katecholamine synthetisieren und freisetzen.

Katecholamine sind, neben ihrer Funktion als Neurotransmitter auch Regulatoren der Immunfunktion: Stresserleben hat direkten Einfluss auf Immunfunktionen, und umgekehrt!

      Andauernde Stressreaktionen hemmen die Immunfunktion: Ein Überschuss an Katecholaminen führt zu einer Verschiebung der Zytokine vom TH-1 zum TH-2-Pfad (d.h. vom „Verteidigungs-System“ zum „Toleranz-System“). } Siehe Kapitel 5.4

      COMT und Umweltschadstoffe

      Das Enzym COMT wird gebraucht, um bestimmte Medikamente zu verstoffwechseln (z. B. Amphetamine, Methyldopa, Catecholaminhaltige Notfallmedikamente wie Epinephrin) und um Umweltchemikalien wie einfache Phenole, Hydrokarbone, Anthrachinone, Dibenzodioxine und Dibenzofurane abzubauen.

Damit konkurriert der Abbau von Katecholaminen mit dem Abbau von Umweltschadstoffen und Medikamenten. Je weniger COMT zur Verfügung steht, desto weniger Substanzen (Katecholamine, Medikamente oder Umweltschadstoffe) können abgebaut werden.Das bedeutet, dass die heutige Grundbelastung mit Schadstoffen für große Teile der Bevölkerung ein physiologisches Problem darstellt, weil sie bei ungünstigen genetischen Voraussetzungen nicht abgebaut werden können.

      Wer aufgrund einer ungünstigen COMT-Genvariante Katecholamine nicht vollständig abbauen kann, steht ständig „unter Strom“, der Organismus gibt dann ständig „Vollgas“. Diese Variante ist bei ca. 15 % der Bevölkerung zu finden. Bei dieser Konstitution wirken sich Umgebungsfaktoren, die mit unserer modernen, hektischen Lebensweise zusammenhängen, stärker aus, als wenn Betroffene in vorindustrieller Zeit gelebt hätten.

      Neurostress

      Der Begriff „Neurostress“ umfasst die Gesamtheit aller pathologischen Veränderungen der neuroendokrinen Stressachse und deren systemische Auswirkungen auf die Psyche, auf neurologische, endokrin/hormonelle und auf immunologische Phänomene.

      Beschwerden wie Ängste, Unruhe, Motivationsverlust, kognitive Störungen, Fatigue/Leistungsabfall, Überempfindlichkeitsreaktionen, Schlafstörungen oder Schmerzen sowie Erkrankungen wie Depressionen, Burnout oder Migräne können als Funktions-Störungen verstanden werden, die auf neuro-regulatorischen Dysbalancen beruhen. Die Balance zwischen exzitatorischer (erregender) und inhibitorischer (dämpfender) Gehirnchemie ist gestört.

Der Ablauf der Stressantwort kann bei erworbenen multisystemischen Erkrankungen auf mehreren Ebenen gestört sein, z. B. durch ein Ungleichgewicht der Stresshormone, durch Dysfunktionen/Resistenzen bei den Rezeptoren; durch einen gestörten Abbau aufgrund eines (epi/genetischen) Mangels oder eines Überschusses an stressabbauenden oder entzündungshemmenden Enzymen.

      3.1.8 Stressbedingte Erkrankungen

      Aus physiologisch wird pathologisch

      Wenn der physiologische Ablauf der Stressantwort nicht gewährleistet ist, entstehen als Langzeitwirkungen unterschiedliche stressbedingte Erkrankungen. Stressbedingte Erkrankungen sind in der Regel chronisch-entzündliche Erkrankungen.

Physiologische Reaktion auf stressorische ReizePathologische Folgen
Bereitstellung von Energie, um potenziell flüchten oder angreifen zu können.Das permanente Abrufen der Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin, weitere) verbraucht viel Energie und baut Substanzen ab (z. B. Proteine, Calcium) � Erhöhtes Risiko für Muskelschwund, Osteoporose.Auf emotionaler Ebene: Angst, Aggression.
Energie in Form von Blutzucker wird für die Muskeln und für das Gehirn bereitgestellt.Zuckerstoffwechselstörungen, Gewichtsprobleme, Insulinresistenz, Prä-Diabetes, Diabetes mellitus.
Bereitstellung von BlutfettenFettstoffwechselstörungen bis hin zu Adipositas.
Der Blutdruck steigt, der beschleunigte Blutkreislauf intensiviert den Transport von Sauerstoff in die Zellen und Gewebe.Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schwindel.
Mitochondrien erhöhen die ATP-Produktion, als Nebenprodukt entstehen vermehrt freie Sauerstoff-Radikale.Zu viel oxidativer Stress entsteht. } Siehe Kapitel 5.5
Freisetzung von NO und weiteren Signalmolekülen.Zu viel nitrosativer Stress entsteht. } Siehe Kapitel 5.5
Das „Cortisol-Netzwerk“ ist dauerhaft hoch. Das Immunsystem wird heruntergefahren, das Schmerzempfinden sinkt.Störungen der Immunregulation, erhöhte Infektionsanfälligkeit, schlechte Wundheilung, dünne, brüchige, neurodermitische Haut. Cortisol bedingter Fettansatz im Gesicht, Nacken, Stamm und Abdomen.
Die Stressantwort hat Vorrang vor der Schilddrüsen-, Wachstumshormon- und Geschlechtshormon-Achse.Ungleichgewichte bei den Schilddrüsen-, Wachstums- und Sexualhormonen.
Der Sympathikus ist aktivHypertonie, Erregbarkeit, Abgeschlagenheit, Schlafstörungen. Inaktivierung des Parasympathikus, mangelnde Regeneration � Burnout.
Das Verdauungssystem wird zum Überleben nicht gebraucht und macht Pause.Magen-Darm-Störungen: Appetit-, Nahrungsverwertungsstörungen, Reizdarm.
Herunterfahren weiterer Vitalfunktionen, z. B. Sexualität, die in Stress-Situationen nicht dem Überleben dienenGynäkologische/urologische Störungen, (z. B. Libido-, Erektionsstörungen, Menstruations-Beschwerden).
in Stress-Situationen können wir nicht schlafen.Störungen des Schlaf-/Wachrhythmus.
Mikro-Entzündungen entstehen als Antwort auf Stressoren.Dauerhafte, subklinische Entzündung/Silent Inflammation. Im ganzen Organismus, auch im Gehirn � Risiko für Depressionen.
Der Verbrauch des Wohlfühlhormons Serotonin ist erhöht, die Synthese wird gehemmt.Serotonin-Mangel hat Auswirkungen auf unsere Stimmung, auf den Schlaf, auf Appetit, Sexualverhalten, auf die Temperaturregelung und auf die Schmerzwahrnehmung.
Automatisierte Aktivierung archaischer GehirnfunktionenÜberlastungs-Störungen, Aggressivität. Langfristig: Abbau kognitiver Gehirnfunktionen, Gedächtnisstörungen.
Die Skelettmuskulatur wird mit Blut und Nährstoffen versorgt, zur Vorbereitung für Kampf oder Flucht spannen sich viele Muskelgruppen an, was mit einem Zittern einhergehen kann.Muskelverspannungen, -verhärtungen, Schmerzen.
Die Atmung wird schneller, der Puls steigt.Atemwegserkrankungen, Asthma.
Hände und Füße schwitzen, der Mund wird trocken. Wir werden blass, wir bekommen eine „Gänsehaut“. Der einsetzende Harndrang kann dazu führen, dass wir vor Schreck unwillkürlich Wasser lassen.Neuro-vegetative Störungen.
Alle Sinne sind angespannt, die Pupillen weiten sich. Die Konzentration richtet sich auf die Bedrohung, alles andere wird kurzzeitig ausgeblendet.Tunnelblick, kognitive Überlastung, Gereiztheit.

      3.2 Unterschwellige Stressoren

      Die (un-)heimlichen Stressoren

      In Kapitel 3.1 wurde die Antwort des Organismus auf sinnlich wahrnehmbare Reize geschildert. Nun wenden wir uns den sinnlich eher nicht-wahrnehmbaren, unterschwelligen Faktoren zu. Die beiden Bereiche lassen sich nicht trennscharf unterscheiden, sie sind ineinander verwoben.

      Die multifaktorielle Gesamtlast

      Im vorliegenden