Название | Der Weltenschreiber |
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Автор произведения | Heike Schwender |
Жанр | Языкознание |
Серия | Feder, Pergament und Tinte |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754173572 |
An der Seite des Bilderrahmens fand sich nichts, aber als Sarah ihre Finger vorsichtig hinter das Bild gleiten ließ, stießen sie auf einen winzigen Hebel, der dort an der Wand befestigt war. Ein kurzes Zögern, dann zog die junge Frau den kleinen Widerstand zu sich nach vorne, entgegengesetzt zu der Richtung, in die er bis dahin gezeigt hatte.
Für einen kleinen, unsicheren Moment dachte Sarah, sie hätte sich geirrt. Hätte sich verrannt in seltsamen Hinweisen, die sie gemeint hatte, aus Büchern herauszulesen. Aber dann hörte sie es. Ein leises, gleitendes Geräusch, das seinen Ursprung irgendwo hinter der Wand zu haben schien, in der sich zu Sarahs Erstaunen eine schmale dunkle Öffnung zu bilden begann. Rein gar nichts hatte vorher darauf hingewiesen, dass sich hinter dieser Tapete ein geheimer Durchgang befand. Ein geheimer Durchgang – wohin?
Sarah hielt sich nicht lange mit dieser Überlegung auf und auch innere Mahnungen zur Vorsicht schob sie rigoros beiseite. Nun war sie schon hier. Sie war endlich auf irgendetwas gestoßen, nachdem sie so lange Zeit einem Phantom hinterher gerannt war. Nun wollte sie gefälligst auch wissen, was hinter dieser geheimen Tür lag! Mit einem tiefen, entschlossenen Atemzug näherte sie sich dem Durchgang und betrat gebückt den dahinter liegenden Raum.
//Es war in Bewegung. Nicht aus freiem Willen. Irgendetwas zerrte es vorwärts, ließ keinen Zweifel daran, dass es zu folgen hatte. Nie zuvor war es einem solchen Zwang ausgesetzt gewesen. Zwischen ihm und seinem anderen Ich hatte eine stille Verbundenheit geherrscht, begründet auf Respekt, Treue und Freundschaft. Es war eine gleichberechtigte Partnerschaft gewesen. Aber hier ... hier war alles anders. Drohungen, Schmerz, Hass. Es wurde nicht gefragt, sondern gezwungen. Nicht gebeten, sondern befohlen. Alles war trüb, sinnlos und leer. Bar jeden positiven Gefühls. Es wurde als Sklave gehalten. Wusste er denn nicht, was es in Wirklichkeit war?//
Kapitel 4
Der Geruch von Essen, frischem Kaffee und Tabak hing träge in der milden Nachtluft und erfüllte die kleinen Gassen entlang des Flussufers. Dank des ungewöhnlich warmen Frühsommertages saßen die Menschen auch weit nach Mitternacht noch auf den Terrassen der Cafés oder flanierten unter den Bäumen im Schein der Straßenlaternen am Wasser entlang. Paris zeigte sich in diesen Juninächten als verträumte Stadt jenseits aller Zeit und Hektik.
Matthew saß am Ufer der Seine unter einer Kastanie und stellte fest, dass er wieder nüchtern war. Er hatte sich den Platz auf der Bank am frühen Abend gesichert, ausgestattet mit einer Flasche Rotwein, einer Schachtel Zigaretten und dem festen Vorsatz, ihn nicht vor dem nächsten Morgen zu räumen. Tatsächlich hatte er sein Vorhaben nur zweimal kurz unterbrochen. Nach einer knappen Stunde – das leere Starren auf das Wasser hatte sich doch als noch eintöniger erwiesen, als er angenommen hatte – war er in den Kiosk gegenüber gegangen, um sich ein Exemplar des Le Mercure zu kaufen. Gegen elf Uhr hatte er sich schließlich zwei Becher Kaffee organisiert, die ihm beim Ausnüchtern helfen sollten.
Wenn seine Freunde zu Hause in England ihn fragten, warum um Himmels Willen er nach fünf Jahren seine Tage immer noch in Paris verbrachte, pflegte Matthew mit einem etwas schiefen Grinsen zu antworten »Ich kam wegen des Jobs, aber ich bleibe wegen des guten Essens.« Die Wahrheit sah etwas anders aus. Mary war der einzige Grund gewesen, warum er sich immer noch auf der falschen Seite des Kanals aufhielt. Und jetzt, da sie ging, waren ihm Job und Essen ziemlich egal. Normalerweise würde er sich unter der Woche auch nicht betrinken, anstatt pflichtbewusst überflüssige Präsentationen für seinen Vorgesetzten vorzubereiten.
Matthew blickte auf die Uhr. Halb zwei Uhr morgens. Sie war wahrscheinlich schon vor vier Stunden damit fertig gewesen, ihre Sachen aus der Wohnung zu holen, aber er wollte noch nicht dorthin zurück. Die Bank würde es noch etwas länger mit ihm aushalten müssen.
Der Wind frischte auf und trieb einige Blätter an der Bank vorbei. Eine vergessene Plastiktüte schwebte träge hinterher. Matthew betrachtete den nächtlichen Himmel. Die Lichter der Stadt wischten alle Sterne hinweg und ließen nur eine glühende Dunkelheit zurück. Noch war nichts von den Wolken zu sehen, die der Westwind von der Kanalküste heranbrachte, aber der Wetterbericht hatte für den Morgen kräftige Regenschauer angekündigt. Es hatte etwas Tröstliches, dass diese Wolken aus Richtung Großbritannien kamen. Wenigstens würde sich das Wetter Matthews Stimmung angleichen und er müsste auf dem Weg ins Büro keine händchenhaltenden Paare im Sonnenschein sehen.
Viertel vor zwei. Er konnte jetzt wahrscheinlich gefahrlos in seine Wohnung zurückgehen, seine halbleere Wohnung, in der nun ein halbleeres Bett stand. Matthew stand auf, stellte ungehalten fest, dass seine Beine vom stundenlangen Sitzen eingeschlafen waren und wartete leicht schwankend ab, bis dieses furchtbare Kribbeln einsetzte. In seiner Erinnerung waren Parkbänke wesentlich bequemer gewesen, aber mit fortgeschrittenem Alter (Fortgeschrittenes Alter? Reiß dich zusammen, Mann, du bist erst einunddreißig!) musste man sich wohl schon andere Orte suchen, um Trennung und Selbstmitleid im Wein zu ertränken.
Das vorsichtige Belasten des rechten Fußes signalisierte so etwas wie Gangbereitschaft. Matthew hängte sich seine braune Ledertasche über die Schulter, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und wandte sich zum Gehen. Seine Wohnung lag westlich von hier, er würde also den Wolken entgegen gehen. Trotz der letzten Stunden und der quälenden Müdigkeit verspürte er plötzlich den Wunsch, viel weiter zu gehen. Aus der Stadt, die nun keine Bedeutung mehr für ihn hatte, hinaus. Vielleicht bis zur Küste oder gleich über das Meer.
»Vielleicht bis zum Rand der Nacht«, murmelte er und zündete sich eine Zigarette an. Leise kicherte er ob des pathetischen Satzes.
»Wohl eher nur bis zum Rand der Seite«, fügte unerwarteterweise eine kratzige Stimme hinter ihm hinzu. Matthew wirbelte auf dem Absatz herum und stolperte über seine eigenen Füße. Er konnte sich noch fangen, bevor er stürzte, aber zumindest seine Zigarette schickte er ungewollt auf einen langen Parabelflug in Richtung Fluss.
Auf der Bank saß ein älterer Mann in einer abgewetzten braun-karierten Tweedhose und einem Hemd, das sicherlich einmal weiß gewesen war. Matthew konnte sein Alter nicht schätzen, aber an den Schläfen hatten sich bereits graue Strähnen in das braune Haar gemischt.
Er schaute sich um, aber der Fremde musste buchstäblich vom Himmel gefallen oder aus einem Kanalschacht geschlüpft sein. Jetzt blickte er Matthew über die Ränder seiner Brille hinweg an. Als er sprach, klang die Stimme des Mannes nicht mehr nur kratzig. Eher schien es, als lagerten Generationen an Staub auf seinen Stimmbändern, so heiser war das Flüstern jetzt.
»Bitte, junger Mann – hätten Sie ein Glas Wasser?«
Kapitel 5
Schon als Kind lernt man einige elementare Regeln für das tägliche Überleben. Schau nach beiden Seiten, bevor du über die Straße gehst. Leg dich in der Schule nicht mit den Größeren an. Finger weg von Drogen. Und lass niemals, niemals einen Fremden in deine Wohnung.
Vielleicht war es weingetränkter Fatalismus, der Matthew dazu brachte, letztere Regel zu ignorieren. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er die letzten vier Monate sowieso mit einer scheinbar völlig Fremden zusammengelebt hatte.
Matthew hatte nicht lange nachgedacht, bevor er ihn hierher gebracht hatte. Er hätte den Mann natürlich in ein Krankenhaus bringen können, aber es schien ihm weiter nichts zu fehlen. Die Polizei wollte er ebenso wenig rufen. Der Fremde wirkte leicht desorientiert, aber nicht auf eine bedenkliche Art – er konnte geradeaus laufen, deutlich sprechen und wusste zumindest, dass er in Paris war. Wie alt mochte er sein? Vielleicht fünfzig? Egal, auf alle Fälle wirkte er altmodisch. Er erinnerte Matthew an die Leute aus den verstaubten Politik-Gesprächsrunden im Fernsehen der Siebziger, die beige gemusterte Anzüge trugen, dazu überdimensionierte Brillen mit ständig kränklich wirkenden gelbgetönten Gläsern, und bei denen die bemitleidenswerten Kameraleute sich stets