Der Weltenschreiber. Heike Schwender

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Название Der Weltenschreiber
Автор произведения Heike Schwender
Жанр Языкознание
Серия Feder, Pergament und Tinte
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754173572



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warf ihm einen fragenden Blick zu und als er die Augen verdrehte, legte sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.

      Tatsächlich dauerte die Tirade noch gute zwei Minuten.

      »...und deshalb würde ich vorschlagen, dass du pronto deinen Hintern hierher bewegst. Ich will auch gar nicht wissen, welche lahme Ausrede du diesmal...«

      »Weißt du, Jim«, unterbrach ihn Matthew, »eigentlich wollte ich dir das ja in Ruhe mitteilen, aber nachdem ich dich schon mal am Telefon habe, können wir das auch jetzt machen.« Er holte tief Luft. Vieles hatte sich in den Jahren, die er in dieser Firma verbracht hatte, aufgestaut, aber er sollte sich kurz fassen. »Die Zahlen kannst du selbst abliefern, du musst dazu nur den Computer anschalten. Das geht an diesem großen runden Knopf in der Mitte. Wenn du ihn schon laufen hast, kannst du natürlich auch gleich deine Präsentation erstellen, ich werde nämlich eine sehr lange Zeit nicht da sein. Aber ich bin mir sicher, du schaffst das schon, irgendeine Qualifikation musst du für deine Stelle ja mitgebracht haben.« Jetzt konnte auch er ein Grinsen nicht mehr unterdrücken.

      Carmushs Stimme klang jetzt weit weniger selbstsicher. »Wie bitte? Sag mal, hast du...«

      »Tut mir leid, Jim, aber ich muss auflegen. Sollte es aber nicht zu dir durchgedrungen sein: Ich kündige. Ihr braucht mir meine Sachen nicht zu schicken.«

      »Du kündigst? Warum?« Die Stimme war jetzt lauter, angefüllt mit der aufkommenden Panik eines Menschen, in dem die Erkenntnis wächst, dass auf ihn jetzt sehr viel mehr Arbeit zukommt.

      »Ich bin euch entwachsen.«

      »Wann?«

      »In diesem Augenblick.« Matthew legte auf und atmete erleichtert aus. Er hatte nicht erwartet, dass es sich so gut anfühlen würde. Sofort klingelte sein Telefon wieder. Er schaltete es aus, überlegte einen Augenblick, öffnete dann die hintere Abdeckung, entfernte die SIM-Karte und zerbrach sie. Dann nahm er das Telefon und warf es in den nächstgelegenen Mülleimer. Dupoit sah ernsthaft erstaunt aus, aber Sarah lachte lauthals.

      »Also so kündigt man in England, was?«

      Kapitel 16

      Alfred irrte die ganze Nacht durch die Pariser Straßen. Manche waren überraschend belebt und ihre festliche Straßen- und Geschäftsbeleuchtung vermittelte den flanierenden Menschen einen trügerischen Eindruck einer bereits lange vergangenen Tageszeit. Andere wiederum waren düster und nur spärlich beleuchtet von einzelnen Lichtquellen, die ihre schwachen Strahlen beinahe entschuldigend in die Dunkelheit hinausschickten. Alfred war das egal. Seine Schritte waren gleichmäßig, ohne dass er darüber nachdenken musste. Seine Überlegungen hingen mit ganz anderen Dingen zusammen. Wichtigeren Dingen.

      Zuerst dachte er darüber nach, was er in der kleinen heruntergekommenen Bar aufgeschnappt hatte, in der er den gestrigen Tag verbracht hatte. Schreibend, wie immer. Der verwirrte Mann, der da so überraschend in den Gastraum gestürmt war, hatte ihn völlig unangekündigt aus der Eintönigkeit seines Daseins gerissen und ihm eine Möglichkeit aufgezeigt, die ihn trotz seiner äußeren Gelassenheit innerlich aufgewühlt und bis in seine Grundfesten erschüttert hatte.

      So lange! So lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet! Hatte eine Nachricht wie diejenige, die er glaubte, aus dem Gestammel des Mannes herausgehört zu haben, herbeigesehnt! Konnte es wirklich wahr sein? War das die Spur, auf die er so lange gehofft hatte? Wann genau hatte er eigentlich aufgehört zu hoffen? Er wusste es nicht mehr. Aber es lag schon geraume Zeit zurück.

      Irgendetwas in Alfred sträubte sich dagegen, das Gehörte für wahr zu halten und sich erneut der Hoffnung hinzugeben. Er dachte an den Mann mit dem verstrubbelten Haar, der in die Bar gestolpert war und angefangen hatte, in hysterischem Tonfall auf den alten Barbesitzer hinter der Theke einzureden. Der hatte ihn nur wortlos angegafft, die Zigarette hing ihm dabei in einem Mundwinkel fest. Er hatte nicht einmal die Zeitung sinken lassen, in der er bis dahin gelesen hatte. Stattdessen war sein Gesicht immer ausdrucksloser geworden, als er dem so aufgeregten Neuankömmling schweigend zugehört hatte. Es war ihm ohne weiteres anzusehen gewesen, dass er den Fremden insgeheim für verrückt hielt. Und es war ja auch eine verrückte Geschichte, die der Mann auf seine verwirrte Art und Weise erzählt hatte. Es musste eine verrückte Geschichte sein für die Menschen dieser Welt! Aber eben nicht für Alfred.

      Der großgewachsene Mann mit dem maskenhaft jugendlichen Gesicht, das von dichtem, blondem Haar umrahmt wurde, trat durch einen düsteren Torbogen und kam in eine weitere schmale Gasse, die nur spärlich beleuchtet war. Ohne auch nur zu merken, wo er sich gerade aufhielt, ging er einfach weiter. Immer weiter.

      Der Fremde in der Bar hatte Schwierigkeiten gehabt, seine Geschichte klar darzulegen. Verworrene Gedanken und Erzählmomente wechselten einander ab. Unmöglich für den Barmann, da mitzukommen. Aber für Alfred war das nicht weiter schwierig. Er lebte für Wörter. Für Sätze. Für Geschichten. Nichts, was damit erzählt werden wollte – und auch das, was zwischen den Zeilen stand – blieb ihm verborgen.

      Der Mann hatte von einer Bäckerei erzählt, die er zuvor in einer kleinen Seitenstraße entdeckt hatte. Und dort, vor dem Laden, hatte er als Straßenmusikant die vergangenen zwei Stunden verbracht. Er hatte seine Gitarre ausgepackt, den Gitarrenkasten aufgeklappt vor sich auf den Gehweg gestellt, seinen alten Hocker in die richtige Position gerückt und angefangen zu spielen. Die Bäckerei war nicht sehr gut besucht gewesen, aber hin und wieder kamen ein paar Kunden und betraten den Laden. Sehnsüchtig hatte der Musiker dann darauf gewartet, dass die Einkäufer wieder herauskamen und ihn mit einer Kleinigkeit bedachten. Er stellte sich vor, dass sie ihm sicherlich ein paar Münzen vom Wechselgeld zukommen lassen würden. Die Überlegung hatte nur einen Haken. Die Kunden, die in die Bäckerei gingen, kamen nicht mehr heraus.

      Bei diesem Gedanken angekommen, gerieten Alfreds Schritte nun doch ins Stocken. Die Erzählung des Musikers war immer unübersichtlicher geworden. Klar war, er war nicht in die Bäckerei gegangen, sondern hatte durchs Schaufenster nach drinnen geblickt. Und was er dort gesehen hatte, brachte ihn beinahe um den Verstand. Dort drin war keine Bäckerei. Keine Ladentheke, keine Angestellten, die eine wartende Kundenschlange bedienten, kein frisch gebackenes Brot.

      Stattdessen hatte der Straßenmusikant etwas gesehen, das eigentlich nicht sein konnte. Und diese unheimliche Tatsache war es, die seinen Geist verwirrt hatte und seine Geschichte in den Augen des Barmannes so verrückt erscheinen ließ. Der Musiker sprach von Feldern, Wiesen und Wäldern. Vor seinen Augen hatte sich ein Land erstreckt, so weit, dass es erst ganz in der Ferne an den Horizont gestoßen war. Dort, ganz am Ende seines Blickes, hatte er gemeint, Berge erkennen zu können. Und dann hatte noch etwas seine Aufmerksamkeit gefesselt. Ein dunkles, massives Gebäude, das er nur aus den Augenwinkeln hatte erkennen können. Als er seinen entsetzten Blick in diese Richtung hatte wandern lassen wollen, war er von einer Woge des Entsetzens überspült worden, die ihm keine klaren Gedanken mehr erlaubt, sondern nur den Wunsch in ihm geweckt hatte, so weit und so schnell wie möglich davonzulaufen.

      Ohne noch irgendeine Kontrolle über sich selbst zu haben, hatte er seinen Platz vor dem Laden aufgegeben und war kreuz und quer durch die Straßen gerannt, bis er dann zufällig in besagter Bar gelandet war.

      Alfred hatte seine Schritte wieder unter Kontrolle. In gleichmäßiger Geschwindigkeit ging er weiter. Es war sowieso schon ein außergewöhnlich großer Zufall gewesen, dass der Fremde den Weg in genau diese Bar gefunden hatte. Aber vielleicht hatte er sich auch nur auf der Suche nach einem Versteck befunden und da war ihm die Treppe, die auf den ersten Blick in den Keller führte, gerade recht gekommen. Oder aber es war gar kein Zufall gewesen … Alfred wischte diesen Gedanken fort. Im Grunde war es egal. Worauf es ankam, war das, was der Musiker hinter dem Schaufenster der Bäckerei gesehen hatte. Ein unheimliches Kribbeln machte sich in Alfred breit. Wenn hier etwas derart Unwirkliches geschah, dann lag die Schlussfolgerung nahe, dass dessen Ursprung nicht in dieser Welt zu finden war. Sondern in seiner. In der Welt der Büchergilde.

      Aber was sollte er nun mit diesem Wissen anfangen? Alfred war davon überzeugt, dass es zwecklos war, nach besagter Bäckerei zu suchen. Das Eindringen des Menschen in die Machenschaften desjenigen, der diese Fassade erschaffen