NACHT ÜBER DUNKELHEIT. M. D. REDWOOD

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Название NACHT ÜBER DUNKELHEIT
Автор произведения M. D. REDWOOD
Жанр Языкознание
Серия Nacht über Dunkelheit
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752904956



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Aber Siegmund hatte dringlichere Sorgen.

      Der Großherzog sprang auf das Fuhrwerk und hob den schweren Toten mit einem raschen Armzug von der Tür und ließ ihn nach unten. Zwei Männer waren nötig, um Siegmund den Mann abzunehmen, den dieser mühelos herum wuchtete. Der Rauch hatte den ganzen Wagen ausgefüllt und zog augenblicklich ab. Siegmund wartete nicht lange mit steinerner Miene, sondern kletterte hinein. Draußen begannen die Soldaten zu löschen. Mit ihren Helmen schafften sie Wasser aus dem nahen Fluss heran und reichten es in einer Kette weiter bis zum Reisewagen.

      »Neeiin!!« Ein lauter Schrei erfüllte die Luft: voller Schmerz, voller Wut und voller Hass. Jeder fühlte was geschehen war, die Reiter sahen sich in betroffenem Schweigen an. Andere starrten auf das schmutzige Pflaster. Selbst der grüne Drache senkte den Kopf.

      »Es tut mir Leid«, brummte er in seiner tiefen, lauten Stimme. Dann verschwand er zwischen den Bäumen.

      Im Wagen hob Siegmund den Kopf von Isabelle an, begutachtete ihn kurz und strich ihr das schweißnasse, schwarze Haar aus der Stirn. Dann drückte er ihren schlaffen Körper an sich und weinte, während er an die schmutzigen Bodenbretter des Wagens vor sich starrte.

      Nach vielleicht einer Minute riss sich Siegmund zusammen. Er hob Isabelles toten Körper über seinen Kopf nach draußen auf die Wagenwand. Reiter kletterten hinauf, um ihm die tote Großherzogin abzunehmen. Das Neugeborene lag zwischen ihr und einem der Ärzte. Erschlagen von einem der Gegenstände. Die Ärzte waren ebenfalls tot, erstickt an den Gasen. Das konnte Siegmund in ihren gequälten Gesichtern sehen, während er die Toten nach oben reichte, um Platz zu schaffen. Er wagte nicht sich auszumalen auf was er gerade stehen könnte. Die Magd lag quer über einer Truhe und rührte sich nicht. Sie war blutüberströmt. Der Großherzog reichte sie nach oben. Die Soldaten auf dem Fuhrwerk schüttelten traurig den Kopf, auch die Magd war tot.

      Im Fenster auf der unteren Seite lag zwischen einer Truhe und einem Durcheinander aus medizinischem Besteck und verschiedener Schreibwaren der letzte Passagier des Reisewagens. Der kleine Volker lag geschunden und regungslos da. Die Büchertruhe hatte ihn nur knapp verfehlt, doch das Skalpell des Hofarztes seinen Oberarm durchbohrt. Das fröhliche Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden und die einst rosigen Wangen leichenblass. Siegmund schüttelte sich, während er um Beherrschung kämpfte. Still rannen die Tränen über seine Wangen während er sich zu Volker hinunter beugte. Vier Jahre hatte er mit dem Jungen verbringen können, viel zu viel davon hatte er mit Maßregelungen oder gar auf Feldzügen verbracht. Er griff den kleinen Körper mit seinen großen Händen. Der Junge wimmerte und hustete. Siegmund fing an zu lachen, dann zu weinen. Er drückte den kleinen Volker an sich und musste sich zurückhalten, ihn vor lauter Freude nicht in seinen massigen Armen zu zerdrücken.

      »Er lebt«, rief er heiser, doch er brachte nur ein ersticktes Flüstern heraus. »Er lebt!«, brüllte er schließlich.

      Die Männer auf dem Wagen verstanden und riefen nun ebenfalls: »Volker lebt!«

      Vom Bann der Trauer entfesselt, toste ein Hurra-Geschrei los, das klang, als ob die Drachen erneut angriffen. Die schmerzlichen Verluste waren für einen Augenblick vergessen. Siegmund begann nach oben zu klettern.

      Die Männer boten ihre Hände an, um Siegmund den Jungen abzunehmen. Doch dieser wiegelte ab. Er wollte seinen Sohn so bald nicht wieder loslassen. Mit einer Hand an der Wagenwand und Volker in der Anderen zog sich der Großherzog aus dem Wrack.

      »Sanitäter«, brüllte er dann, während er von dem Fuhrwerk kletterte. Die Sanitäter begannen, unter Siegmunds wachsamen Augen, den hustenden Volker zu versorgen. Sie wagten jedoch nicht das Skalpell zu entfernen, sondern fixierten es an Ort und Stelle mit so vielen Verbänden wie ihnen möglich war.

      »Wir müssen schleunigst nach Großbergen zurück«, sagte der Sanitäter. »Die Ärzte müssen sich um den jungen Herrn kümmern.«

      »Die Ärzte sind tot«, bemerkte der Großherzog.

      Siegmund knotete mehrere Dreieckstücher zusammen und legte den kleinen Jungen hinein. Anschließend band der Großherzog die Tücher um seinen eigenen Hals zusammen und stieg auf sein Pferd. Siegmund hatte seinen Sohn nun wie ein riesiges Medaillon an einer Kette um den Hals.

      »Alles Aufsitzen«, befahl er im ruhigen Ton. Die Männer stiegen in die Sattel.

      »Im Galopp nach Südosten. Auf nach Keeper’s Town!«, rief Siegmund. »Jetzt erst recht!«

      Das Regiment galoppierte los, der Nacht entgegen.

      2. Kapitel: Alles im Eimer

      »So, das ist meine Geschichte«, schloss Volker. »Oder zumindest hat man es mir so zugetragen.«

      Er war für einen noch Dreizehnjährigen recht groß und muskulös gebaut. Das war auffallend, weil an dem warmen Frühlingstag beide Jungen die Ärmel hochgekrempelt hatten. Volker hatte schwarzes Haar und ein für einen Jungen markantes Gesicht mit Hakennase. Seine Augen blitzten aufmerksam und klug, trotzdem huschte ihm immer wieder der Schalk durchs Gesicht. Er trug ein halb offenes, hellgraues Leinenhemd, das bis vor nicht allzu langer Zeit weiß gewesen war; pechschwarze Hosen, deren Farbe wohl für eine ganze Familie zum Eindunkeln der Wäsche gereicht hätte, und schwarze Reiterstiefel mit fester Sohle, die ein Vermögen kosteten.

      »Und wie hast du Deine verloren?«

      Vigor zuckte die Achseln. »Ganz ehrlich, ich habe keinen blassen Schimmer.«

      Volker musterte den schlanken Jungen vor sich. Vigor war deutlich kleiner als Volker, aber vor allem sehr mager. Unterernährt, vermutete Volker. Vigor hatte rotbraunes bis dunkelblondes Haar, das ihm ins Gesicht fiel und ein schmales, kindliches Lausbubengesicht. Er war etwa Volkers Alter, sah allerdings doch sehr jung aus. In seinen Augen leuchtete ein Feuer, das ihn für den Sohn des Großherzogs interessant machte. Er schien gebildet und wirkte überhaupt nicht wie einer der Bauernjungen oder Knechte, die Volker bei seinen Streifzügen so über den Weg liefen. Nein, selbst nun nicht, wo er hüfttief im Schlamm steckte. Vigor sah müde, schäbig und dreckig aus. Das graue Leinenhemd, welches er trug, war ausgewaschen, geflickt und ihm deutlich zu weit. Wahrscheinlich konnte er aus dem Hemd auch durch den offenen Kragen schlüpfen, statt es über den Kopf zu ziehen. Kein Wunder, dass es ihm von der Schulter rutschte. Alles in allem ein sehr schmuddeliges Bild. Trotzdem wirkte Vigor stolz und erhaben, mächtig wollte man sagen.

      »Was heißt, du kannst dich nicht erinnern?«, fragte Volker.

      »Das mir die Erinnerung an das Ereignis fehlt?«, antwortete Vigor. »Dafür würde ich es begrüßen, wenn seine Königliche Hoheit mir helfen könnten.«

      »Oh, ja.«

      Volker sprang von seinem Ross ab, auf dem er die ganze Zeit über gesessen hatte. Der schwarze Hengst war gesattelt, doch es fehlte jedes Zaumzeug. Volker näherte sich Vigor ein Stück durch das hohe Gras und Schilf, welches auf dem baumüberdachten Schlammufer eines seichten Sees wuchs. Bäume und Gras wurzelten in den See hinein. Die glasklaren Wasserfläche schien auf einen halben Meter nur wenige Zentimeter Tiefe zu gewinnen. Dies war sehr trügerisch, schließlich steckte Vigor in etwa knöcheltiefem Wasser bis zur Hüfte im Schlamm. Volker ging nur so weit bis er Vigors ausgestreckte Arme greifen konnte. Er packte ihn an beiden Arme und begann zu ziehen.

      »Fester«, ermunterte ihn Vigor.

      Volker zog wie ein Stier.

      »Au!«, rief Vigor. »Nicht so fest.«

      »Mann, entscheide dich mal.«

      »Kann ich wissen, dass du zu viel Kraft hast?«

      Volker spannte seinen rechten Oberarm an und spielte mit dem dicken Bizeps hin und her, indem er die geballte Faust drehte. »Ich dachte, dass sei offensichtlich.«

      »Ist doch bloß Pudding.« Vigor grinste frech.

      »Na, warte.« Volker zog wie besessen an dessen Arme.

      »Ist ja gut. Ich glaube es dir.«

      »Los, strampeln!«, keuchte