DAS BUCH ANDRAS II. Eberhard Weidner

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Название DAS BUCH ANDRAS II
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия DAS BUCH ANDRAS
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738007473



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darüber machte, auch wenn diese allem Anschein nach in keine bestimmte Richtung führten.

      »Wer befindet sich bei Ihnen?«, fragte Michael, und der Tonfall seiner Stimme klang nicht länger verschlafen, sondern ausgesprochen aufgeweckt und vor allem misstrauisch.

      »Ein freundlicher Mensch, der mir sein Handy geliehen hat. Alles Weitere erzähle ich Ihnen später.« Bevor er noch andere in meinen Augen überflüssige Fragen stellen konnte, trennte ich die Verbindung kurzerhand durch einen entschlossenen Knopfdruck. Dann gab ich dem jungen Mann das Mobiltelefon zurück, damit er endlich nach Hause und aufs Klo gehen konnte.

      »Danke. Möglicherweise haben Sie mir damit das Leben gerettet!«

      Wahrscheinlich hielt er meine Worte für einen Scherz oder eine bloße Redewendung, denn er winkte ab und lächelte nun wieder, allem Anschein nach erleichtert, dass er endlich gehen konnte. »Keine Ursache, jederzeit wieder.« Er steckte das Handy in die Tasche, hob lässig die Hand zum Abschied und marschierte dann an mir vorbei und zielstrebig davon.

      Ich konnte ihm nicht verdenken, dass er meine Äußerung nicht ernst genommen hatte. Mir wäre es an seiner Stelle vermutlich nicht anders ergangen. Mir war jedoch klar, dass es sich dabei durchaus um die Wahrheit handeln konnte. Unter Umständen waren Klapp und seine Kollegen nämlich noch immer auf den Straßen unterwegs und auf der Suche nach mir, auch wenn ich dafür bislang zum Glück keine Anzeichen entdeckt hatte. Aber sobald ich sie zu Gesicht bekäme, wäre es vermutlich ohnehin zu spät. Und falls die Entfernung zu dem Attentäter, der mich entdeckt hatte, groß genug wäre, würde ich ihn möglicherweise nicht einmal sehen oder auch nur das Geräusch der schallgedämpften Waffe hören, bevor die Kugel mich traf und meinem Leben ein rasches Ende bereitete.

      Um mein Glück nicht über Gebühr herauszufordern, und weil ich mich, als ich hier mitten auf dem Bürgersteig stand, wie auf dem Präsentierteller und allem, das zufälligerweise um die nächste Ecke biegen mochte, schutzlos und hilflos ausgeliefert fühlte, suchte ich nach einem Versteck, in dem ich die Zeit bis zu Michaels Ankunft wesentlich geschützter hinter mich bringen konnte. Nicht weit von mir, nur wenige Schritte entfernt, befand sich eine größere Wohnanlage. Vor der Anlage stand ein selbst im schwachen Mondlicht extrem hässlicher Holzverschlag, in dem die Mülltonnen der Hausbewohner gelagert wurden. In einer finsteren Ecke unmittelbar hinter diesem Verschlag wollte ich mich verborgen halten. Dort konnte ich von der Straße aus nicht entdeckt werden und in Ruhe und relativer Sicherheit auf Michael warten.

      Dennoch galt weiterhin die Devise: Je früher er hier auftauchte und mich abholte, desto eher konnte ich mich auch wieder wirklich sicher fühlen.

      Kapitel 6

      Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis ich dieses Ziel erreichte und das erste Mal, seit der Schrei der Nachtschwester mich aus meinem Albtraum geweckt hatte, wieder das Gefühl hatte, in Sicherheit zu sein. Und das lag bestimmt nicht nur daran, dass ich in einem die ganze Nacht geöffneten Café in ausreichender Entfernung zum Sanatorium saß, einen riesigen Cappuccino vor mir stehen hatte, der bereits zur Hälfte geleert war, und ein cremiger Bart aus aufgeschäumter Milch meine Oberlippe zierte.

      Ich leckte den Milchschaum genüsslich mit der Zunge ab und gab mich dem seltenen Luxus hin, die Augen zu schließen und den Geschmack, der meinen Mund ausfüllte, noch einen Moment länger zu genießen. Zumindest für diese wenigen kostbaren Sekunden wurden all meine Probleme und sämtliche Feinde und Gegner in den Hintergrund meines Denkens verdrängt, die außerhalb dieser Räumlichkeiten weiterhin darauf lauerten, sofort wieder über mich herzufallen, sollten sie mich auch nur zu Gesicht bekommen. Dabei handelte es sich um wesentlich mehr Probleme, Feinde und Gegner, als eine Frau in meinem Alter haben sollte. Frauen meines Alters sollten prinzipiell keine Feinde haben, deren größtes Bestreben es war, sie zu opfern oder möglichst rasch um die Ecke zu bringen. Und sie sollten sich auch keine Gedanken darüber machen müssen, wie sie ihren Zwillingsbruder aus den Händen finsterer Dämonenanbeter befreien konnten. Frauen in meinem Alter sollten sich stattdessen allenfalls den Kopf darüber zerbrechen, was sie zu ihrem nächsten Date anziehen und wie sie den gut aussehenden Kerl, auf den sie ein Auge geworfen hatten, an Land ziehen konnten, bevor eine andere ihnen zuvorkam.

      Apropos gut aussehender Kerl! Ich öffnete die Augen wieder und sah Michael an, der mir an unserem Tisch unmittelbar gegenübersaß, ebenfalls in Gedanken versunken zu sein schien und gelegentlich an seinem Milchkaffee nippte.

      Ich entließ die tröstende Leere, mit der ich meinen Verstand in dem verzweifelten Bemühen gefüllt hatte, alle bedrückenden Gedanken über meine gegenwärtige verzweifelte Situation für den Augenblick zu verdrängen, schluckte den mittlerweile geschmacklos gewordenen Rest des Milchschaums hinunter und richtete meine ganze Konzentration wieder auf das Hier und Heute, statt mich irgendwelchen albernen Träumereien vom sogenannten »normalen Leben« hinzugeben, das vermutlich ohnehin nur eine Illusion war. Schließlich wurden meine Probleme nicht dadurch gelöst, dass ich krampfhaft versuchte, die Realität zu verleugnen. Sie ließen sich auch nicht durch Wunschträume vertreiben oder zum Besseren verändern, sondern lauerten selbst dann noch hartnäckig hinter der nächsten Ecke auf mich.

      Michaels gedankenverlorener Blick war in die Kaffeetasse gerichtet, die er zwischen seinen Händen hielt, als wollte er sich daran aufwärmen, doch ich bezweifelte, dass er deren Inhalt tatsächlich wahrnahm. Seine ganze Aufmerksamkeit war viel eher auf die Gedanken und Bilder fixiert, die gerade in seinem Kopf abliefen. So hatte ich zumindest die Gelegenheit, ihn ein paar Augenblicke ungeniert zu beobachten.

      Er machte noch immer einen ebenso übermüdeten Eindruck wie in dem Moment, als ich zu ihm ins Auto gestiegen war. Ich hatte etwa fünfundzwanzig Minuten warten müssen, bis ein Wagen aufgetaucht war und zielsicher an der Stelle gehalten hatte, die ich Michael zuvor mit der Hilfe des jungen Mannes am Telefon beschrieben hatte. Allerdings war ich zu vorsichtig und vor allem zu verängstigt, um sofort aus meinem Versteck zu kommen. Erst als Michael ausstieg, sich neben das leise im Leerlauf brummende Fahrzeug stellte und suchend umsah, fiel mir eine riesige Last von den Schultern und gleichzeitig ein Teil der Anspannung von mir ab. Ich lief zu seinem Wagen, einem unauffälligen, silbermetallicfarbenen Golf 7, in den wir nach einer knappen Begrüßung rasch einstiegen.

      Doch bevor wir losfuhren, zog ich Gehrmanns Pistole aus dem Hosenbund, da sie sich im Sitzen in meinen Unterleib bohrte, und das war alles andere als bequem. Michael beäugte die Waffe sichtlich überrascht, sagte jedoch nichts, sondern nahm sie mit spitzen Fingern entgegen. Anschließend wischte er sie mit einem Lappen, den er aus einem Fach der Fahrertür geholt hatte, und raschen, geübt erscheinenden Bewegungen sorgfältig ab. Vermutlich wollte er dadurch unsere Fingerabdrücke entfernen. Anschließend ließ er die Pistole im Handschuhfach verschwinden. Erst nachdem er all das erledigt hatte, fuhr er zu meiner Erleichterung los.

      Bis auf den knappen Gruß hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt kein Wort gewechselt. Erst dann, während der Fahrt durch die nächtlichen Straßen, erzählte ich ihm in geraffter Form, aber gleichzeitig möglichst detailliert, was die wesentlichen Merkmale der Geschehnisse anging, alles, was ich in den letzten teilweise hochdramatischen Stunden erlebt hatte. Zu meiner eigenen Überraschung konnte ich mich auf Michaels entsprechende Frage nach kurzem Nachdenken sogar an das Kennzeichen des vorderen der beiden Fahrzeuge vor dem Sanatorium erinnern. Michael rief daraufhin mit seinem Handy jemanden an, für den die unchristliche Tageszeit anscheinend keine Rolle spielte. Möglicherweise handelte es sich um einen Kollegen beim LKA, der in dieser Nacht Bereitschaftsdienst hatte. Michael meldete sich mit seinem Namen und seiner Dienstnummer, gab das Kennzeichen durch, das ich ihm genannt hatte, und bat um Überprüfung und Feststellung des Fahrzeughalters.

      Nachdem ich ihm alles berichtet hatte, was in meinen Augen relevant erschien, schlug er vor, dieses Café aufzusuchen, von dem er wusste, dass es die ganze Nacht offen war. Außerdem lag es beruhigend weit vom Sanatorium entfernt. Wir wollten uns nämlich erst einmal möglichst weit vom Sanatorium und damit auch von den Eindringlingen, die vielleicht noch immer nach mir suchten, entfernen und ein paar Stunden verstreichen lassen, bevor Michael mich wieder ins Sanatorium zurückbrachte. Er war ebenfalls der Ansicht, dass die Angreifer längst die Flucht ergriffen hatten, nachdem ich ihnen entkommen war, da sie damit rechnen mussten, dass ich die Polizei alarmierte. Wir kamen dennoch