Todgeweiht im Odenwald. Werner Kellner

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Название Todgeweiht im Odenwald
Автор произведения Werner Kellner
Жанр Языкознание
Серия Mordskrimigeschichten im Odenwald
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754182093



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Rot überquert. Ohne nach rechts oder links zu blicken, hielt sie Kopf und Hände im Lauf nach vorne auf die andere Straßenseite gestreckt.

      Als ob sie etwas ergreifen wollte.

      Sie bewegte sich im Laufschritt, aber sie war nicht schnell genug, um dem drohenden Zusammenstoß zu entkommen. Das Auto, das dank eines modernen Elektroantriebes nahezu lautlos die Landesstraße entlang fuhr, stieß sie an der Kreuzung Ludwigstraße und Adam-Karrillon-Straße zu Boden und tötete sie auf der Stelle.

      Der Unfallfahrer wurde vor seiner Befragung durch die Polizei von demselben Seelsorger betreut, der sich jetzt um seine Familie kümmerte. Er hatte, aufgeschreckt durch das Sirenengeheul vor der Kirche, kurzentschlossen den Ostergottesdienst des nahegelegenen Gotteshauses unterbrochen. Das schrille Geräusch der Sirenen hatte die Osterbotschaft von der Auferstehung von den Toten gestört, und der Klang der Martinshörner ließ den Ton der Orgelpfeifen ebenso wie den Gesang der Gemeinde verstummen.

      Vor der Kirche herrschte ein aufgeregtes Durcheinander, was angesichts des tragischen Zwischenfalls nicht verwunderlich war, aber von den Rettungskräften eher störend empfunden wurde.

      Der Fahrer wurde von der Polizei, nachdem die Dash-Cam ausgewertet worden war, zum Unfallhergang befragt, aber er saß wie in Schockstarre da und wiederholte immer nur einen Satz.

      „Wieso ist sie bloß bei Rot über die Straße gelaufen?“

      Der junge Beamte, der die Aussage aufnahm, war nicht in der Lage diese Frage präzise zu beantworten.

      Der leere Kinderwagen an der Parkbank hätte, wenn er gefragt worden wäre, einen Beitrag zur Vorgeschichte leisten können.

      Aber dazu kam es nicht.

       EINS

       Die Abstammung

      Georg Memmert verzieh zeit seines gesamten Lebens seiner Mutter nicht, dass sie ihn als uneheliches Kind in die Welt gesetzt hatte.

      An Tagen wie diesen, wenn jedermann seine Toten ehrte, war es für ihn extra bedrückend, seiner Mutter zu gedenken.

      Dabei hatte sich Hilde Memmert zeit ihres gesamten Lebens liebevoll um ihn gekümmert, und alle ihre Bedürfnisse hintangestellt.

      Leider sah er in ihr immer nur die Frau, die ihn gebar und großzog, ohne ihn jemals über seinen Vater und seine Herkunft aufzuklären.

      Dabei unterstellte er ihr enttäuscht ein Wissen, das nicht existierte. Sein unbekannter Vater hatte Georgs Mutter keinen Hinweis darauf zukommen lassen.

      Seine Mutter war Köchin in einem adligen Haushalt gewesen. So viel war ihm aus ihren Erzählungen geläufig. Sein Glaube, dass sein Vater demselben Haus zuzuordnen war, basierte mehr auf einer instinktiven Ahnung als auf irgendeinem Beleg.

      Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass sich seine kindlichen Erinnerungen an eine Mutter, die ihn vor fünfundsechzig Jahren in der Mutter-Kind-Klinik in Engenthal gebar, relativ bruchstückhaft gestalteten.

      Sie war die erste ledige Schwangere, die einen Sohn in der im Odenwald gegründeten Dependance des Stammhauses in Wiesbaden gebar. Die Klinik war während des Krieges gebaut worden, aber ihren Betrieb nahm sie erst Anfang der fünfziger Jahre auf.

      Nach der Geburt durfte Hilde Memmert in der Klinik bleiben, und er erinnerte sich dunkel an einige wenige Spielkameraden sowie an ein finsteres Haus mit geheimnisvollen Winkeln, die er in seiner Kindheit nicht zu betreten wagte. Seine Mutter erhielt eine Stelle als Köchin in der Anstalt, denn Kochen war ihr ein und alles.

      Er wuchs in dem Heim auf und schloss dort seine Schulzeit mit der mittleren Reife ab, kurz nachdem seine Mutter nach langer Krankheit starb.

      Seine wenigen Erinnerungen spülten von Zeit zu Zeit hoch, dass sie eine stolze Frau war, die seinem unbekannten Vater nicht nachtrug, dass er sie geschwängert hatte. Es war ein simpler ‚Verkehrsunfall‘, den sie in dem Haus erlitten hatte, in dem sie als Köchin arbeitete. Irgendjemand aus der Familie des Vaters hatte ihr die Geburt in der abgelegenen und neugegründeten Klinik in Engenthal ermöglicht.

      Seine lebhaftesten Erinnerungen rankten sich um die Märchen und Sagen des Odenwaldes, mit denen sie ihn als Kind in den Schlaf begleitete.

      Er kramte immer wieder in der alten Schuhschachtel mit den vergilbten Fotos, die sie ihm hinterlassen hatte. Rückblickend musste er zugeben, wie schön und großgewachsen und blond mit wasserblauen Augen sie war, wie sie so dastand auf dem Foto und selbstbewusst in die Kamera des unbekannten Fotografen schaute.

      Was hätte er für eine tolle Jugend haben können, wenn seine Eltern sich ordentlich verhalten und geheiratet hätten.

      Die Briefe, die er beim Entrümpeln ihrer Habseligkeiten entdeckte und erst Jahre später las, stammten alle von einem einzigen Absender, und waren entweder kurz vor und nach dem Krieg geschrieben worden. Einige waren als Feldpostbriefe abgestempelt. Der letzte Brief datierte vom 20. Dezember 1954.

      Ein Weihnachtsbrief.

      Vier Monate vor seiner Geburt datiert.

      Die Affäre seiner Mutter mit seinem Vater hatte lange gedauert, und er war das unehrenhafte Produkt der Verbindung.

      Er hatte nicht zuletzt deshalb die Briefe lange Zeit mit Missachtung gestraft, weil er im Stillen seinen Vater verfluchte, der seine Mutter schmählich mit ihm allein zurückgelassen hatte, ohne die Verantwortung für seine Samenspende zu übernehmen.

      Zugleich war er traurig, dass seine Mutter ihm die Briefe vorenthalten hatte.

      Im Gegensatz zu ihm war seine alleinerziehende Lebensspenderin niemals unglücklich oder haderte mit ihrem Schicksal. Jedenfalls zeigte sie das nie.

      Ihr genügte es, zu wissen, dass ihr Sohn gesunde Gene geerbt hatte. Sie hatte nicht vor, halbgare Gerüchte weiterzugeben, denn eine solide Stammbaumanalyse erforderte angesichts der Vermutungen, die sich in ihrem Kopf um die Herkunft des Vaters rankten, einen Aufwand, den sie nicht zu leisten imstande war.

      Für sie reichte es aus, sein Interesse zu wecken.

      Um die Nachverfolgung der verästelten Familiengeschichte sollte er sich im Laufe seines Lebens selber kümmern.

      Und so war es auch.

      Er bemühte sich ab dem Zeitpunkt, an dem er konkrete Hinweise auf die Möglichkeit einer herausragenden Herkunft besaß, Licht ins Dunkel der verzweigten Linien seines Stammbaumes zu bringen.

      Es sollte für ihn ein steiniger Weg werden, den zu bewältigen, er einen langen Atem brauchte.

      Den einzigen Hinweis, den sie ihm quasi als Appetithappen mitgab, wiederholte sie ständig mit der Erzählung ihrer Lieblingssage. Und obwohl sie ihm die Sage immer wieder wie ein Nachtgebet erzählte, dauerte es Jahre, bis ihn die Neugier übermannte, die Briefe zu lesen und die Informationen zusammenzufügen.

      

       Die Sage vom Rodensteiner[Fußnote 1]:

      

       Der Letzte der Herren zu Crumpach-Rodenstein lernte seine Frau Maria auf einem Turnier in Heidelberg kennen und lieben. Lange Jahre lebten sie auf ihrer Burg im Frieden. Eines Tages geriet der kampflustige Freie Herr Hans zu Crumpach mit einem Nachbarn in Streit, den er glaubte, in einem Krieg ausfechten zu müssen. Seine schwangere Frau flehte ihn an, sie nicht zu verlassen, denn sie fürchtete um sein Leben. Als sie ihn festhielt, stieß er sie von sich. Sie fiel unglücklich und starb zusammen mit ihrem ungeborenen Kind. Tags darauf erschien sie ihm als weiße Frau im Traum und verfluchte ihn dazu, mit dem wilden Heer umherzuziehen und Krieg und Frieden anzukündigen.

       Seither führte Hans III. von Crumpach-Rodenstein der sogenannte Schnellertsherr, bei bevorstehenden Kriegsereignissen ein Geisterheer an. Das Heer zog lärmend von der Ruine Schnellerts durch einen Bauernhof, dann entlang der Gersprenz und durch Fränkisch-Crumbach zur Burgruine Rodenstein durch die Lüfte, um beim Ende