Nur eine Petitesse. Anja Gust

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Название Nur eine Petitesse
Автор произведения Anja Gust
Жанр Языкознание
Серия Die Geschichte der Sina Brodersen
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753187242



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sehr instabilen Lage. Dann aber zog er sie zurück.

      „Sie sollten sich nicht so weit vorwagen. Die Kante könnte brüchig sein“, ermahnte er sie. „Seien Sie bitte vorsichtig.“

      „Ja, ich … danke Ihnen, aber ich weiß auch nicht ...”

      „Was ist mit Ihnen, Frau Antonelli? Sie zittern ja.“

      „Es liegt sicher an der Höhe. Ein leichter Schwächeanfall“, schützte sie vor und bat um eine kleine Verschnaufpause.

      „Wir sollten besser umkehren“, schlug Maurice vor und führte sie auf dem kürzesten Weg zum Plateau zurück. Danach begaben sie sich in das Aussichtsrestaurant, nahmen vor einem der großen Panoramafenster Platz und bestellten zwei Kaffee.

      „Vielleicht war es doch keine so gute Idee, herzufahren?“, fragte er und betrachtete besorgt ihr leichenblasses Gesicht. „Möchten Sie lieber etwas Kühles trinken? Eine Cola? Oder ein Wasser?“

      „Nein danke, Alles in Ordnung. Ich war nur für einen Moment etwas durcheinander. Entschuldigung.“

      „Da gibt es doch nichts zu entschuldigen. So etwas ist normal ... Sehen Sie, wie sich die Leute drängen?“, fragte Maurice und deutete mit dem Kinn in Richtung Plattform. „Bald wird es ungemütlich. Der Massentourismus bringt zwar Geld, ist aber Gift für die Umwelt.“

      Doch Sina hatte gar nicht zugehört. Noch immer war sie tief in Gedanken. Plötzlich legte sie die Hand auf seinen Arm. „Hören Sie, Maurice. Was ich vorhin gesagt habe, entspricht nicht der Wahrheit“, begann sie ihm jetzt zu gestehen. „Ich bin absichtlich hier und habe eine Aufgabe zu erfüllen. Dazu brauche ich Hilfe. Könnte ich dabei auf Sie zählen?“

      „Das kommt auf die Aufgabe an“, entgegnete er nüchtern.

      „Sie haben gestern recht komisch reagiert, als ich den Namen Carlotta Corleone nannte. Aber genau das interessiert mich. Was hat es damit auf sich?“, fragte sie und brachte ihn damit in erneute Verlegenheit.

      „Das ist doch Schnee von gestern“, wehrte er sichtlich nervös ab. „Bei uns gibt es ein Sprichwort: Soihäfeli – Soideckeli! Das heißt so viel wie: Schweineklo und Schweinedeckel. Diese verdammte Vetternwirtschaft! Um es frei heraus zu sagen: Frau Corleone ist laut offizieller Version bei einem Unfall ums Leben gekommen.“

      „Und wie lautet die inoffizielle Version?“, setzte Sina unbeirrt nach, wobei ihr Herz bis zum Hals schlug.

      „Es gibt Dinge, über die man besser nicht redet. Damit erspart man sich eine Menge Ärger“, empfahl er ihr. Im selben Atemzug benannte er ein paar ungeschriebene Regeln: Hinterfrage nie, was bereits öffentlich erklärt worden war. Bezweifele niemals eine Begründung. Vor allem, falle nicht durch unbequeme Fragen auf.

      „So einfach ist das aber nicht – jedenfalls nicht für mich.“ Sie neigte sich ihm vertraulich zu. „Ich suche eine bestimmte Person. Ihr Name lautet Baron von Billow. Ich habe den begründeten Verdacht, dass mir dieser Mensch einige wichtige Antworten geben könnte.“

      Unmittelbar malte sich ein Schreck in sein Gesicht. „Sie sind nicht bei Verstand“, flüsterte er nach einer Weile und schaute sich ängstlich um. „Woher nehmen Sie das? Ich meine, wie kommen Sie darauf, dass er etwas damit zu tun haben könnte?“

      „Instinkt!“

      „Vergessen Sie es. Sie haben keine Chance“, antwortete er knapp.

      „Das wird sich zeigen.“

      „Wie stellen Sie sich das vor?“

      „Indem Sie mir helfen, ihn zu finden.“ Sina hatte vor Eifer rote Wangen bekommen. Ob diese Forschheit ein Fehler war, wusste sie nicht. Doch sie war entschlossen, jetzt alles zu riskieren.

      „Tut mir leid. Dafür bin ich eine Nummer zu klein“, antwortete Maurice entschieden.

      „Aber Sie kennen jemanden, der die nötige Nummerngröße hat.“

      „Ich muss Sie warnen. Ist Ihnen klar, in welche Gefahr Sie sich begeben?“

      „Das ist mein Problem. Also? Wer kann mir helfen?“

      Maurice überlegte einen Moment. Man sah ihm an, wie er mit sich rang. Dann aber erwiderte er knapp: „Wenden Sie sich an Eddi Corleone. Er verfügt über genügend Verbindungen.“

      „Sie meinen den Typen aus dem Casino?“ Sina glaubte sich verhört. „Diesen prolligen Macho?“

      „Genau den. Sagen Sie ihm, Sie hätten den Tipp von mir. Er kennt mich und wird Ihnen mehr sagen können. Er hält sich zwar für den Nabel der Welt und schneidet gern auf, aber es gibt kaum jemanden, der besser informiert ist. Und da er sich schon einige Male das Maul verbrannt hat, kommt es auf einmal mehr nicht an. Doch eines noch – hüten Sie sich vor Lola!“

      „Wer ist Lola?“

      „Eine seiner Flammen. Sie hat überall die Finger drin und weicht ihm nicht von der Seite. Die beiden arbeiten zusammen, müssen Sie wissen.“

      „Ich glaube, ich habe diese Lola im Casino gesehen“, meinte Sina, sich jetzt zu erinnern. „Das ist so eine Brünette, nicht wahr?“

      „Vorsicht, das kann täuschen. Sie wechselt öfter die Frisur. In der letzten Zeit hat sie sich auf ältere Herren spezialisiert. Eddi ist ihr persönlicher Beschützer.“ Er malte hierzu Gänsefüßchen in die Luft.

      „Beschützer?“

      Maurice hüstelte. „Oder „Abschöpfer“, ganz wie Sie wollen.“

      „Ihr Lude also. Oh!“ Erschrocken hielt Sina sich die Hand vor den Mund. „Nun fällt der Groschen.“ Plötzlich musste sie lachen.

      „Was ist daran so lustig?“

      „Nichts. Aber irgendwie passt das zu ihm. Ich bin in der Tat noch keinem größeren Stutzer und Maulhelden begegnet. Was meinen Sie, kann man ihm trauen?“

      „Natürlich nicht. Deshalb sollten Sie ja auch vorsichtig vorgehen. Am besten, Sie setzen ihn mit irgendetwas unter Druck. Dann hätten Sie eine Chance. Anderenfalls wird er Sie gnadenlos auffliegen lassen.“

      „Ich glaube, da hätte ich was“, erwiderte Sina zu seiner Verwunderung.

      „Wirklich?“

      „Ich denke schon.“

      „Seien Sie bloß vorsichtig.“

      „Das werde ich. Verlassen Sie sich darauf.“ Kurz darauf entschuldigte sie sich und suchte den Waschraum auf. Sie schaute sich im Spiegel an und atmete tief durch. Im Anschluss ließ sie kaltes Wasser über ihre Arme laufen und überdachte den neuen Anknüpfungspunkt. Eddi also. Na, der konnte was erleben.

      Die Kontaktaufnahme

      Sina fackelte nicht lange. Bereits am selben Abend suchte sie das Casino im Kempinski auf. Über ihrer Schulter baumelte nonchalant ihre kleine Handtasche an einer goldenen Kette. Sie trug zu ihrem dunklen Rock eine beigefarbene Tunika mit Perlen-Dekolleté und eine pelzverbrämte Jacke. Vor allem zeigte der lange Seitenschlitz viel Bein, was bei den Vertretern des „starken“ Geschlechtes ausgesprochen gut ankam. Nachdem sie einen der frequentierten Roulette-Tische aufgesucht hatte, dauerte es nicht lange und Eddi fand sich zu ihrer Linken ein. „Fünf auf Noir“, raunte er ihr unauffällig zu.

      „Wieso?“

      „Laut meinem Schema ist die Wahrscheinlichkeit eines Treffers hier am größten.“

      „Faites vos jeux“, forderte der Croupier zu den Einsätzen auf.

      Sina setzte hundert Franken.

      „Rien ne va plus!“ Die Kugel rollte und blieb auf Sechs Rouge liegen.

      „Offenbar ist heute nicht Ihr Tag, Eddi.“

      „Ich bin untröstlich, Madame. Aber nach meinen Berechnungen ist …“