Die Uhr meines Vaters. Ekkehard Wolf

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Название Die Uhr meines Vaters
Автор произведения Ekkehard Wolf
Жанр Документальная литература
Серия Erinnerungen
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783742723116



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die Lust aufs Erdbeeren Klauen erst einmal vergangen. Der Borchers war ohnehin so ein Typ von Lehrer, den man heute wohl vergebens sucht. Vier Jahrgänge gleichzeitig zu unterrichten, das war schon eine Herausforderung, der sich heute sicher kaum noch jemand auf Dauer stellen würde. Im Dorf berühmt für seine täglichen Spaziergänge, die ihm den Ruf einbrachten, ein uralter Mann zu werden, hatte er vor allem Unterrichtseinfälle, die Lernen erfahrbar machten. Ich werde den Bau der Serpentinenstraße im Hügel hinter der Schule nicht vergessen, deren Stabilität wir dann mit den eigenen Spielzeugautos testen durften. Oder das Einüben eines Theaterstücks neben dem Unterricht. Zugegeben, es war die Idee des damaligen Referendars, der hieß Herr Fuhrmann. Aber es zuzulassen, das war die Entscheidung vom alten Borchers. Ich durfte mich am Hans im Glück versuchen. Das war natürlich eine große Ehre. Aber die Geschichte fand ich schon damals nicht wirklich schlau. Gut möglich, dass ich mir schon damals vorgenommen habe, so etwas besser nicht zu machen. Jedenfalls habe ich die Lehre aus der Geschichte mein Leben lang nicht vergessen.

      Abgesehen von Klauen gab es in Armsen auch damals schon natürlich noch andere verbotene Sachen, bei denen wir glaubten, uns dabei besser nicht erwischen lassen zu sollen. Da waren zum Beispiel die Feuerspielchen. Zwei der Nachbarjungs fanden es eines Tages sehr lustig, ein Huhn zu fangen, dessen Gefieder mit Benzin zu übergießen, das Tier dann anzuzünden und laufen zu lassen. Das hat damals für ziemlich viel Aufregung im Dorf gesorgt. Nicht so sehr wegen des Huhns, aber das Viech hätte ja das ganze Dorf anzünden können. Natürlich hätten die Erwachsenen zu gern erfahren, wer die Übertäter waren. Aber wenn das einer gepetzt hätte, wäre es ihm ziemlich an den Kragen gegangen. Also hat keiner gepetzt. Da die Täter nicht ermittelt werden konnten, mussten alle, die dafür in Frage kamen, sich entsprechende Predigten der Eltern anhören, ich auch. Die beiden Spaßvögel hat das nicht davon abgehalten, das Spiel mit dem Feuer wenig später noch einmal mit einer Katze zu spielen. Der wurde dazu ein benzingetränkter Lappen an den Schwanz gebunden. Das fand ich zur Abwechslung mal nicht so gut, weil ich Angst hatte, sie könnten das mit meiner Katze auch machen. Gemacht haben sie das trotzdem. Als das Tier in seiner Panik dann brennend ins Haus lief, war es allerdings mit dem Spaß vorbei. Normalerweise haben die Erwachsenen in diesem Dorf uns ziemlich viel durchgehen lassen. In diesem Fall war das anders, wohl auch, weil die Lausbuben erwischt worden sind. Den Bösewichtern wurde so gründlich das Fell gegerbt, dass ihnen die Lust auf Feuerspielchen vergangen ist. Auf die Lust mit der Gewalt an Tieren nicht unbedingt. Das habe ich dann bei unserer Katze Katinka gemerkt. Als sie es trotz heraushängender Gedärme irgendwie doch noch zurück bis nachhause geschafft hat, haben wir sie zwar mit Penicillinpulver wieder zusammengeflickt, aber ihre frühere Zutraulichkeit gegenüber Menschen war natürlich weg. Ich war wegen Katinka ziemlich sauer auf die anderen Jungs. Zu Katzen habe ich seither und bis heute ein besonders vertrautes Verhältnis. Das liegt wohl vor allem daran, dass Katzen die einzigen Tiere sind, die sich von Menschen nicht so dressieren lassen. Vermutlich kommt das aber auch daher, dass ich einmal erlebt habe, in was für eine Furie sich eine Katze verwandeln kann, wenn sie in die Ecke gedrängt wird. In dem Fall war die Ecke zwar ein verschlossenes Scheunentor, aber ich werde trotzdem nicht vergessen, wie der Hund, der die Katze dahin gejagt hat, von ihr mit den Krallen ihrer Vorderpfoten so heftig attackiert wurde, dass er mit blutender Schnauze jaulend das Weite gesucht hat.

      Das hat mich damals aber nicht dazu gebraucht, beim Umgang mit allen Tieren große Skrupel an den Tag zu legen. Ganz besonders gering war die Hemmschwelle zum Beispiel bei Regenwürmern und Fliegen, obwohl ich nie dabei mitgemacht habe, ihnen zum Spaß die Flügel auszureißen. Ein echter Sonderfall war bei uns das Spatzenschießen. Das war mal so richtig spannend. Das lag vermutlich schon daran, weil es auch bei uns nicht eben selbstverständlich war, als Kind mit dem Luftgewehr durch das Dorf zu ziehen. Im Armsen hatte damals jedenfalls nur einer so ein Teil und der hieß Heiner. Damit sind wir losgezogen und haben versucht, die kleinen Biester platt zu machen. Aber das wurde schnell langweilig. Vermutlich lag das auch an der verblüffenden Erfahrung, dass die zum Abschuss vorgesehenen braunen Gesellen nicht wirklich wild darauf aus waren, von uns ins Jenseits befördert zu werden. Irgendwie haben die das immer ausgesprochen schnell begriffen gehabt, dass wir es auf sie abgesehen hatten. Wir haben das daran gemerkt, dass es auf einmal ganz ruhig war. Spatzen machen normalerweise einen ziemlichen Rabatz. Wenn wir einen von ihnen erwischt hatten, war das vorbei. Wir haben dann immer recht schnell die Geduld verloren und lieber etwas anderes gespielt. Die Spatzen haben auch das sehr schnell bemerkt und sind wieder in der Gegend herum getollt. Wir haben unsere Schießübungen mit Heiners Luftgewehr deswegen natürlich nicht etwa aufgegeben, sondern einfach nur verlegt und zwar auf den Bereich hinter dem Haus der Wilkes. Geschossen wurde da aber auch nicht mehr auf lebende Tiere, sondern so, wie sich das gehört, auf Pappscheiben. Das hatte den Vorteil, dass sich die eigenen Erfolgserlebnisse immerhin mit einer gewissen Regelmäßigkeit eingestellt haben. Von praktischem Nutzen waren diese Erfahrungen dann an der Schießbude beim Schützenfest.

      „Gewalt“ gegenüber Schwächeren war aber nicht nur gegenüber Tieren recht verbreitet. Außenseiter waren auch sehr beliebt als Opfer. Davon gab es so einige bei uns im Dorf. Einer davon war ich. Aber mit mir war das etwas Besonderes. Ich war mehr ein Fremder, wegen Vater, also nicht so sehr der Opfertyp. Außerdem hatte ich viele Spielsachen. Wer da mitspielen wollte, durfte natürlich nicht unfreundlich sein. Anders war das zum Beispiel bei Herrmann, dem Sohn des Schusters. Der durfte eigentlich nie spielen und wurde dafür ständig gehänselt.

      Ganz schlimm erging es dem Jungen von den Zeugen Jehovas. Der wohnte neben der Schmiedewerkstatt, die von Vater Schnell und dem Großvater Lohmann (?) betrieben wurde, dessen Frau mir wegen der Ausbuchtungen am Hals in Erinnerung geblieben ist. Wie der Junge hieß, habe ich vergessen. Der war schon deshalb ein bevorzugtes Opfer, weil er sich ja nicht wehren durfte. Also wurde er ständig verprügelt. Damit aufgehört ihn zu schikanieren haben wir erst dann, als er sich in seiner Verzweiflung irgendwann nicht mehr anders zu helfen wusste und seine ihm auferlegte Friedfertigkeit vergaß. Dabei kamen ihm seine Schuhe sehr zu Hilfe. Da die Familie sehr arm war, hatte er nur ein Paar und die waren mit Eisen beschlagen, damit sie länger halten. Für unsere Schienbeine, die in kurzen Hosen steckten, war das keine so lustige Erfahrung. Wir haben ihn danach dann in Ruhe gelassen. Das galt aber nicht für jeden im Dorf. Hinten am Kattensteert, da wohnte zum Beispiel ein kräftiger Bursche namens Erich. Der stammte, wie wir heute sagen würden, aus eher schwierigen Familienverhältnissen. Angeblich hatte seine Mutter Kinder von verschiedenen Männern bekommen. Außerdem war er angeblich nicht unbedingt der Schlauste. Da er andererseits deutlich stärker war, als jeder andere von uns, haben wir ihn uns immer gleich zu mehreren vorgeknöpft. Vorzugsweise auf dem Schulhof und vorzugsweise immer dann, wenn der Lehrer wieder einmal mit anderen Raufbolden beschäftigt war.

      Ich muss da wohl eine Art Anführer gewesen sein, denn eines schönen Tages durfte ich lernen, wer der Stärkere war. Natürlich ebenfalls vor großem Publikum, nur nicht auf dem Pausenhof, sondern beim Kartoffelfeuer. Da hat er mich eines schönen Abends abgefangen und zum „Zweikampf“ gestellt. Gemeint war damit, er gegen mich. Also ich ohne die Anderen. Mir war sofort klar, dass das keine besonders gute Idee war – also für mich. Aber allzu sehr auf den Kopf gefallen, war ich schon damals nicht wirklich. Zum Glück für mich, gab es auf dem Kartoffelacker jede Menge Steine und die gedachte ich zu nutzen. Das hätte die Chancengleichheit vielleicht ein wenig zurecht gerückt – also für mich jetzt wieder. Jedenfalls habe ich mir das eingebildet. Was natürlich nicht dafür spricht, dass ich besonders gut darin war, die Folgen meines Tuns realistisch abzuschätzen; denn ein Monopol auf die Steine hatte ich ja offenkundig nicht. Zum Glück für mich hatte mein Gegenspieler einen großen Halbbruder. Der hieß Bohlmann und der hatte eine andere Vorstellung von Fairness und wohl auch eine realistischere Abschätzung der wahrscheinlichen Folgen von Steinkämpfen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Steine wegzulegen und mich in einen völlig aussichtslosen Kampf mit dem viel stärkeren Mitschüler einzulassen. Entsprechend zerzaust aber lebend bin ich dann am Abend nach Hause geschlichen und habe es tatsächlich geschafft, von Vater unentdeckt zu bleiben. Immerhin habe ich aus dieser Prügelei die Erkenntnis gezogen, dass es für mich besser sein dürfte, mich nicht unbedingt auf Zweikämpfe zu konzentrieren, wenn ich im Leben etwas würde erreichen wollen. Ganz vordergründig hat sich dieser Erkenntnis damals so niedergeschlagen, dass ich mich lange davor gehütet habe, dem Erich noch einmal unter die Fäuste zu kommen. Natürlich ist mir dieser schöne Satz damals