MONO - 1. Akt: Der Köder. Michael Nolden

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Название MONO - 1. Akt: Der Köder
Автор произведения Michael Nolden
Жанр Языкознание
Серия Mono
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752904420



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röteten sich, ein untrügliches Anzeichen von Scham, bemerkte er. Wegzulaufen gehörte sich nicht. Dazubleiben aber auch nicht. Tonios Unruhe wuchs.

      Die Temperaturen draußen auf dem Platz vor der gewaltigen Halle Eins der Gießerei waren nichts gegen die Hitze, die von den Schmelzöfen aufstieg. Sie flirrte noch im Torrahmen, durch den die Lastkraftwagen ein und aus fuhren. Das Werk war das Wochenende über nicht zur Ruhe gekommen. Verunsichert durch den Widerstand von Gläubigen, die sich weigerten, den allgemeinen Aufforderungen Folge zu leisten und das Land zu verlassen, beschleunigte man seitens der eigens zu diesem Zweck aufgebauten verantwortlichen Stellen die Entsorgung der, wie es offiziell genannt wurde, religiösen Altlasten. Im Inneren der Halle stieben Funken in die Höhe. Sie sprangen wie Derwische über die Betonböden und tanzten bis zu ihrem irrlichternden Tod zum Takt einer wahnsinnigen Komposition.

      Niemals in der Vergangenheit war Tonio Atlas in derart feiner Kleidung zur Arbeit erschienen wie an diesem ganz speziellen Tag. Der Anzug war nicht neu oder von besonderer Qualität. Er war gerade so ausreichend, um auf Hochzeiten und Beerdigungen getragen zu werden, die einzigen Gelegenheiten, die Tonio Atlas einfielen, damit sich der Kauf eines solchen Ensembles für einen längeren Zeitraum rechtfertigte. Irgendwie ordnete Atlas diesen Lebensabschnitt unter der Kategorie Beerdigung ein, denn von diesem Schritt gab es für ihn kein Zurück mehr. Heute ging etwas zu Ende und kehrte nicht wieder. Ein weiteres orangefarbenes Ungetüm auf vier Achsen fuhr in einer Wolke aus Abgasen und Dieselgestank an ihm vorbei, hüllte ihn sekundenlang in seinem dunkelgrauen Gift ein und holperte daraufhin über die Schwellen und die Führungsschienen des Lauftores hinein in die Halle Eins. Innen stand schon ein Fahrzeug. Die Entladung war in vollem Gange.

      Tonio Atlas hörte Berge von Metallteilen krachend auf die Förderbänder fallen, die wiederum die Fracht tiefer ins Innere des Werks transportierten, wo sie bei 1500° Celsius binnen kürzester Zeit in den Schmelzbecken ineinander zerflossen.

      Das Werk war eine Mischkonstruktion aus dunkelrotem Backstein, Beton und über die Jahre blind gewordenen Panoramafenstern. Es hockte wie ein zweihundert Meter langes L auf einer schwarzen Asphaltfläche im Osten von Kleinschwetzingen in einem einstmals modernen Gewerbegebiet. Der Zahn der Zeit hatte von außen an den Backsteinen genagt. Die Metallrahmen der Fenster rosteten unter einer schlecht aufgetragenen grauen Farbschicht. Nicht nur im sprichwörtlichen Sinne war hier der Lack ab. In den vergangenen Jahren hatte es eine Auswanderung von Hochindustrie gegeben. Ein früher blühendes Konglomerat von Firmenniederlassungen war auseinandergebrochen. Zulieferer sahen sich infolge der Verzahnung mit umsatzstärkeren Produzenten plötzlich im Niedergang begriffen. Zu speziell waren die von ihnen belieferten Nischen, so dass der Weg in die Zahlungsunfähigkeit vorprogrammiert war. Die Gießerei blieb davon nicht verschont – bis zu jener Zeitperiode, als in der Bundesrepublik Deutschland den Religionen und im Besonderen Gott der Kampf angesagt wurde.

      Seitlich des Hallentores hatten uniformierte Reservisten Aufstellung bezogen. Atlas zählte vierzehn Soldaten. Auch Frauen waren darunter. Er zögerte. Ein paar der mit Sturmgewehren bewaffneten Sicherheitskräfte sahen seit dem Verlassen des Personalbüros zu ihm hinüber.

      »Tonio!« Der Ausruf besaß den humorvollen Schwung, den der Gießer seit seinem Einstand vor rund zehn Jahren kannte. »Tonio, Mensch, klasse, dass ich dich noch erwisch!« Ein gelber Schutzhelm war über die verschwitzte Glatze von Xaver Schütten ins Gesicht gerutscht und hing so eben über den Augenbrauen. Die Wangen glänzten proper, die Körpermitte beulte die hitzebeständige Schutzkleidung dicklich aus. Deuteten die Fettpölsterchen auf einen Genussmenschen hin, bewiesen die Oberarmmuskeln, dass der Vorarbeiter jederzeit bereit war, sich eine reichhaltige Mahlzeit und ein ordentliches Glas Bier durch kräftiges Zupacken zu verdienen. Schütten schob den Schutzhelm zurück. »Tonio! Wolltest geh'n, ohne was zu sagen? Ich bitt dich!«

      »Xaver, schön dich zu sehen!« Tonio Atlas klopfte dem einen Kopf kleineren Mann sachte auf die Schulter. »Dachte nicht, dass ich dich noch treffe. Warum bist du nicht drinnen?«

      »Anweisungen, Tonio. Sollt ich mir abhol'n. Persönlich. Hab ich gemacht, freu mich nicht drüber. Aber was soll's?« Die Erwiderung war schnellstens ausgesprochen worden, als hätte Xaver Schütten gerne mehr gesagt, dürfe es nicht und wollte dennoch nicht unhöflich zu einem alten Arbeitskollegen sein.

      »Ach?«

      »Ist vielleicht ganz gut. Dass du gehst. Verpasst wahrscheinlich viel Mist in den nächsten Tagen. Was sag ich?! Wochen! Wochen, ja, wahrscheinlich Wochen. Kannst dir das denken.« Schütten sah an dem hoch aufgeschossenen Gießer vorbei auf die Soldaten.

      »Die waren am Freitag noch nicht hier«, meinte Atlas. »Auf den Lkws, aber nicht als Wachen hier.«

      »Eine der Anweisungen«, sagte Schütten, begleitet von einem misslungenen und plötzlich sehr hartnäckigen Augenzwinkern, weil zwei der Reservisten auf sie zukamen. Die Abzeichen an den Uniformen wiesen den einen als Feldwebel aus. »Da will einer was zu sagen haben.«

      »Haben die hier jetzt was zu sagen?«, gelang es Tonio Atlas gerade noch zu fragen, ehe die Soldaten neben den beiden Gießern standen. Atlas' Augen huschten über die Namensschilder der Reservisten. »Wer will etwas sagen?« Die Stimme des Feldwebels, der sich damit ins Gespräch einbrachte, war freundlich bestimmt, aufmerksam, und sie klang für Tonio Atlas, als käme sie von einem Mann, der nicht nur gewohnt war, dass man dieser Stimme Gehör schenkte, sie gehörte auch zu einem Menschen, der für sich eine natürliche Autorität in Anspruch nahm und nach Höherem strebte. Sein Name lautete Kaplan.

      Atlas lächelte amüsiert.

      »Finden Sie meine Frage komisch?«

      »Nein, gar nicht«, erwiderte der – ehemalige Gießer. Denn das war er. Ehemalig. Sofort wusste er, welche Richtung der weitere Wortwechsel nehmen würde.

      »Das sieht mir nicht nach Arbeitsbekleidung aus?« Das Kopfnicken des Feldwebels deutete auf den Anzug von Tonio Atlas, der einen unverbindlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Der Soldat musterte den Zivilisten vor sich eindringlich.

      Gräulich helle Augen besaßen einen abweisenden Glanz, den der Feldwebel sofort unsympathisch fand. Schmale Ohren standen derart weitwinklig ab, dass der türkischstämmige Deutsche belustigt dachte, es käme im nächsten Moment zu einem Flügelschlag, der den Kopf wie in einer schwarzhumorigen englischen Komödie mit sich trüge. Unter einem langen Nasenrücken mit höchst kleinen Nasenflügeln geriet Atlas' Lächeln umso breiter über einem dreieckigen, spitz zulaufenden Kinn. Für Feldwebel Kaplan sah der größere Mann vor ihm wie ein Spitzbube aus. Schwarze Haare, länger als fünf Zentimeter – und deshalb für den Soldaten schon verdächtig –, begannen sich zu kräuseln.

      Tonio Atlas besaß Selbstbewusstsein. Zog er allerdings Blicke auf sich, offen oder verstohlen, vernahm er Getuschel, von dem er glaubte, dass es ihm gelte, wurde er schnell unsicher und bewegte sich zusehends tollpatschig. Er fühlte sich stolpern, obwohl er sich überhaupt nicht bewegte. Dem Auswanderer war nicht an unnötigen Scherereien gelegen. Im Augenblick wollte er nur zu seiner Monica. Das Land verlassen und weit weg sein. Sein linker Fuß wollte einer Bemerkung vorauseilen und bewegte sich leicht, da sprang Schütten helfend ein.

      »Er hat heute seinen letzten Arbeitstag.«

      »Was macht er dann noch hier?«, fragte der Feldwebel und sein Bariton verlor jegliche Weichheit unter einem rüden Grollen, mit dem der Unteroffizier in solchen Momenten gerne seine vom Staat verliehene Macht unterstrich.

      »Er verabschiedet sich. Ich verabschiede ihn. Nach zehn Jahren im Betrieb ist das das Mindeste.« Xaver Schütten setzte den Helm ab und schob ihn sich unter den Arm. Eine Brandnarbe zog sich über die rechte Haupthälfte. Die Haut hatte eine dunkelrote wellenartige Oberfläche ausgebildet. Schütten waren Schmerzen allzu bekannt.

      Kaplan respektierte das. Er verzog den Mund. »Hat er seinen Firmenausweis noch?«

      »Abgegeben«, antwortete Tonio Atlas, der nicht übergangen werden wollte und zu altem Mut zurückfand. »Im Personalbüro abgegeben.«

      »Hat schon alles seine Ordnung«, bekräftigte Schütten mit einem wohl berechneten dreisten Grinsen.

      »Name?«