Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig

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Название Sexy Zeiten - 1968 etc.
Автор произведения Stefan Koenig
Жанр Языкознание
Серия Zeitreise-Roman
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742739810



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Haare sind ja noch länger geworden!“, entrüstete sich Tante Ellen. Ich sah zu meiner Cousine Elke und erhoffte mir Unterstützung, aber die reckte ihren Giraffenhals bloß in die Luft und tat so, als suchte sie verzweifelt etwas. Ich deutete auf sie und sagte zu ihrer Mutter: „In der Jugend wächst das Haar halt viel schneller als im Alter. Das ist wissenschaftlich bewiesen.“

      Meine Mutter sah verzweifelt in die Runde und meinte: „Man kann die jungen Leuten von heute leider nicht mehr zu einem flotten Fasson-Schnitt überreden. Wie ordentlich sah das immer bei Stefan aus, als er seinen Seitenscheitel noch hatte.“

      „Das sah sehr doof aus, wie bei Max Blödmann“, sagte ich. Den Namen hatte ich mal schnell erfunden. Und dann sagte ich mit bedeutungsschwerem Zungenschlag: „Es kommt doch darauf an, was man im Kopf hat und nicht, welche Frisur man auf dem Kopf trägt.“

      „Klug ist er ja“, murmelte Ellen.

      Ich ging an die Schubladen hinter Polly und nahm mir die vier erlaubten Fläschchen Sanostol und schüttete sie nacheinander hinunter, mit einer Mimik, wie ich sie von den trinkfesten Onkels kannte, wenn sie einen Klaren kippten. „Das kommt daher!“, sagte ich.

      Tante Paula war schon siebzig. Als ich ihr, der allseits bekannten Kaffeetante, Kaffee anbot, wehrte sie erschrocken ab.

      „Mein Herz macht nicht mehr mit!“, sagte sie mit dem unterschwelligen Vorwurf, weil ich sie so lange nicht gesehen hatte und wohl nicht wusste, wie es um ihr Herz beschaffen war. „Oder hast du Muckefuck?“, wandte sie sich an Tatti.

      Unten klingelte die Ladentür. Es war Viertel nach Sechs, und erst um halb Sieben schloss die Drogerie.

      „Geh du mal schnell“, sagte Tatti zu Onna, der flüchtig einen Senffleck vom eben noch blütenreinen Drogeriekittel wegzurubbeln versuchte.

      Wir hatten hier schon oft nachmittags gefeiert; da halfen dann alle nacheinander aus, wenn Kundschaft in den Laden kam. Ich durfte noch nicht bedienen.

      „Vielleicht nächstes Jahr, wenn du erwachsener geworden bist“, sagte Onna.

      Wenn mein Bruder Günter von Berlin nach Frankfurt kam, um Urlaub von der geteilten Stadt zu machen, konnte er jederzeit in der Drogerie aufschlagen, um Seifen und Rasierschaum abzustauben. Er durfte auch Kunden bedienen, denn das hatte er schon in seiner Schülerzeit gemacht. Ich hingegen hatte solchen Eifer nicht an den Tag gelegt. Ich hatte lieber Vater beim Kirschen pflücken und Mutter beim Einmachen und beim Abwasch geholfen.

      Die Drogerie war für Tatti und Onna ein Dukatenkacker, für mich eine wahre Fundgrube. Und sie führte auch Muckefuck, ein typisches Nachkriegs- und Behelfsprodukt, weil richtiger Kaffee unerschwinglich war. Er kostete 16,56 DM das Kilo – bei einem durchschnittlichen Monatsverdienst von 1.156,00 DM – das würde nach heutigen Maßstäben Kaffeekosten in Höhe von exorbitanten 8,47 EUR bedeuten, bei einem lachhaften Durchschnittsverdienst von 591,00 EUR. Da war Muckefuck die billigere Alternative. Er wurde aus gemälzter Gerste oder geröstetem Roggen hergestellt. Kinder durften ihn trinken, weil er kein aufputschendes Koffein enthielt. Mir schmeckte er, wenn viel Milch dabei war. Tatti holte schnell eine Packung Muckefuck und setzte für Tante Paula den Blümchenkaffee auf. Paula fasste sich theatralisch ans Herz und schnaufte erleichtert durch.

      Am Abend zog ich Bilanz. Die Familienfeier hatte sich gelohnt. Von Onna und Tatti hatte ich eine nagelneue Reiseschreibmaschine gekriegt. Das war mein größtes Geschenk, auf das ich mächtig stolz war. Ich fiel ihnen überglücklich um den Hals. Von Tante Greta, Ellen und Cousine Elke hatte ich eine Agfa Optima 500 mit integriertem Blitzlicht bekommen. Das war auch super. Tante Lydia, Onkel Franz und Polly schenkten mir ein Taschen-Stativ – auch im Namen von Lydias Tochter Marion, meiner Lieblingscousine, die eine Ausbildung in Italien machte, aber heute hier sein konnte.

      Ich bekam noch einen Farbfilm und einen Rasierapparat, mit dem ich allerdings nichts anfangen konnte, denn meine paar Fläumchen wollte ich zu einem männlichen Bart züchten und nicht wegrasieren. Und Rasierwasser war wohl auch gerade im Angebot, denn davon bekam ich gleich zwei Flaschen.

      Zu Hause hatten mir die Eltern mein Geschenk traditionsgemäß auf den Frühstückstisch gelegt. Noch bevor ich mein Brötchen schmierte, riss ich das Paket wie ein Kleinkind auf. Darin war Schreibmaschinenpapier, ein Schreibset, das Buch „Im Westen nichts Neues“ und eine Tafel Schokolade. Ulla hatte meinen Geburtstag wieder einmal vergessen, obwohl ich ihren nie vergaß. Günter hatte mir zu meinem Geburtstag einen Brief aus Berlin geschickt.

       Liebes Brüderchen!

       Als erstes gratuliere ich dir zu deinem siebzehnten Geburtstag. Allmählich holst du mich ja ein. Obwohl der Abstand schrumpft, ist verwunderlich, dass trotzdem noch sieben Jahre zwischen uns liegen. Bald wirst du gewiss allein nach Westberlin kommen dürfen, um mich zu besuchen. WB ist eine prima Stadt. Viel los hier. Letztes Wochenende war ich in der stadtbekannten Disco, dem Big Eden. Da habe ich auch den Besitzer getroffen. Der heißt Rolf Eden und ist ein echter Playboy mit großen ameri- kanischen Schlitten und vielen jungen Weibern, die ihn umschwärmen. Möchte nicht wissen, wie viele der an einem Abend vernascht. Aber darf ich dir das in deinem jungen unschuldigen Alter überhaupt berichten?

       Seit Sommeranfang bin ich bei der Springerdruckerei beschäftigt, und bevor du mich wieder fragst, was ich da mache: immer noch dasselbe. Als Schriftsetzer bekomme ich fast zehn Prozent mehr Lohn als bei der vorigen Firma. Ich krieg hier immer das Neueste mit. Die BILD ist zwar für Blöde gemacht, aber hin und wieder bringt sie auch mal gute Sachen, wie die Sache mit den Starfightern, die dauernd vom Himmel fallen. Ich glaube, bis jetzt sind es schon über zweihundert Tote. Da ist die BILD ja voll gegen Strauß, den sie sonst in den Himmel hebt. Na ja, was soll’s. Wir ändern die Politik sowieso nicht.

       Habe hier kürzlich Carola, eine Studentin, zur Aushilfe gehabt. Süßes Mädchen. Hat mir von ihrem Chemie-Studium erzählt. Das wäre nix für mich. Ihre Professorin ist eine Frau Becke. Die ist sogar Rektorin und deutschlandweit bekannt. Ich wusste noch gar nicht, dass bis Februar dieses Jahres noch niemals eine Frau zur Rektorin einer Universität gewählt worden war. Ja, die Zeiten ändern sich.

       Anbei habe ich dir einen Zehner gelegt. Vielleicht kannst du damit auch was Vernünftigeres anfangen als ewig nur zu sparen, wie es uns die Eltern raten. Man muss auch mal Geld zum Le- ben ausgeben und nicht für das dumme Sparschwein. Was macht dein Tanzunterricht? Wann startest du?

       Bis demnächst

       Dein Bruderherz Günter

      *

      Ein paar Wochen vor Beginn meines Tanzkurses fand meine Mutter den begehrten Putzjob in einem Offiziershaushalt. Die Villa des Offiziers stand unweit unseres Wohnblocks. Er hatte wohl einen hohen Rang gehabt, weil er nicht wie die anderen Besatzungssoldaten in der Kaserne stationiert bleiben musste. Seitdem kam Lollo mindestens einmal in der Woche mit amerikanischen Dosensuppen von Campbell nachhause, manchmal mit leckerem Hershey’s Schokoladensirup oder Cranberry-Marmelade. Immer brachte sie irgendwelche Reinigungs- und Waschmittel mit, die, wie sie meinte, hochmodern und viel effizienter als die deutschen Produkte sein sollten. Jedenfalls war Mutter sehr stolz, nun eigenständig ihr Geld zu verdienen. Taschengeld von Papa lehnte sie mit einem diplomatischen Lächeln ab.

      Hanna und ich hatten uns eine Woche vor meinem Geburtstag in Liebe getrennt, wie es sich für Hippies gehörte. Irgendwie passten wir nur intellektuell zueinander. Das andere war wie eine unausgesprochene, unsichtbare, aber deutlich spürbare Trennwand. Die Trennung war völlig unproblematisch, weil wir uns beide einfach gegenseitig nicht mehr meldeten. Bis ich sie nach einigen Tagen anrief und fragte, ob wir getrennt seien.

      „Ja, du hast ja jetzt die Amy“, sagte Hanna. „Aber wir sind doch noch gute Freunde, oder?“

      Amy?, dachte ich. Wieso hab ich jetzt Amy? Vielleicht hätte ich Hanna nicht davon erzählen sollen, dass Amy sich ein Gedicht von mir gewünscht hatte und dass ich sie sehr nett fand. War die Offenheit ein Rohrkrepierer?