Unter dem Strand. Petra Misovic

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Название Unter dem Strand
Автор произведения Petra Misovic
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738056426



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      1

      Hier war alles spiegelverkehrt! Zeit verrinnt und Barbara weigert sich aufzuwachen. Sie will nicht darüber nachdenken, welche Schritte als nächstes einzuleiten wären, nicht darüber, daß Harald weg war. Harald war weg und es gibt Leute, die gesehen haben, wie die Segelyacht abgesoffen ist, wie schnell es ging und wie Harald nicht mehr raus kam, weil er gerade auf dem Klo gewesen ist, sagt Uwe. Uwe war an Deck gewesen und konnte sich mit einem Sprung ins Wasser retten, als der Gaskocher explodiert ist. Uwe hat überlebt und Harald nicht. Und jetzt liegt sie auf einem Sofa, was genauso aussieht, wie das Sofa in ihrem Zimmer. Seltsam verdreht liegt sie da, ihre Hüfte schmerzt und sie hat keine Kraft, sich anders hinzulegen und das Hirn weigert sich. Sie betrachtet die Decke, unter der sie da liegt und die gar nicht afrikanisch aussieht. Sie betrachtet die Wäsche, die am Boden liegt. Ihre Wäsche ist nicht dabei und der Koffer, der aufgeklappt in der Ecke steht, gehört ihr nicht. Außerdem war das Zimmer spiegelverkehrt. Und man konnte das Meer sehen.

      Barbara bleibt ruhig liegen, stellt sich schlafend, als sie ein Geräusch hört, Schritte, ein Tablett wird hingestellt, die Schritte entfernen sich vorsichtig, jemand hatte sie entdeckt und wollte sie nicht wecken. Barbara ist es egal, wer sie nicht wecken wollte und sie versucht, das Aufwachen weiter rauszuzögern, das Hirn im Leerlaufbetrieb zu halten, in einer Art Schwebezustand zwischen Tag und Nacht, zwischen Leben und Tod. Normalerweise fällt ihr das leicht, doch ihr Schädel fühlt sich jetzt furchtbar an, das Hirn liegt blank in der Schale und schwappt bei der kleinsten Bewegung schmerzhaft gegen die Schädelwand.

      Uwe schleicht an ihr vorbei ins Bad. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie, wie er sich nach dem Duschen nackt neben seinen Koffer kniet und was zum Anziehen raussucht. Er hat sich nicht abgetrocknet, sein Rücken glänzt und seine haarlosen Beine glänzen auch. Rasch zieht er eine Hose an und ein T-Shirt, dann packt er die herumliegenden Kleidungsstücke eilig in seinen Koffer. Er gießt Tee ein und hockt sich neben Barbara auf den Boden. Er versucht Barbara sanft zu wecken. Sie will keinen Tee, sie will schlafen. Aber Uwe muß sich von ihr verabschieden. Er muß heim. Ist alles o.k. mit Dir? Brauchst Du irgendwas? Soll ich Dir eine Kopfschmerztablette besorgen? - Ja, bitte. Eine Tablette.

      Sie muß aufgeben und wach werden, sie muß mit ihm reden. Er weiß besser, als sie, daß sie sich gestern Abend beinahe ins Koma befördert hat. Sie konnte nicht mehr laufen, hat sich auf dem Weg von der Hotelbar zu Uwes Pavillon zweimal übergeben und Uwe hatte einen Wachmann suchen müssen, damit die Sache beseitigt werden konnte. Marlene war auch dabei gewesen. Als die meisten Gäste sich längst verabschiedet hatten, war sie aufgetaucht. Uwe hat dem Barkeeper seine CD gegeben und Marlene und Uwe haben getanzt, während Barbara an der Bar saß, ihnen zusah und Gin Tonic trank. Sie hatte nicht bemerkt, wie sie allmählich betrunken wurde. Marlene und Uwe hatten getanzt und Uwe hatte sie auf sein Sofa gebracht. Sie hatte ihre Zimmernummer nicht mehr gewußt und der Schlüssel war nirgends. Und jetzt verabschiedet sich Uwe von ihr, und sie will ihn noch was fragen. Ruf mich bitte an, und sag mir Bescheid, wenn ich Dir helfen kann. Halte mich auf dem Laufenden, ja? Ich kann den Laden jetzt nicht länger allein lassen. (Was wollte sie ihn verdammt nochmal fragen?) Das verstehst Du doch. Das hab ich Dir doch erklärt. Uwe legt ihr die Unterlagen für die Polizei hin und für die Versicherung und dann ist er fort.

      2

      Die Bootsversicherung. Harald war nicht reiseversichert und es war überhaupt nicht klar, wie sie Haralds Leiche, die in mehr als hundert Metern Tiefe auf dem Grunde des indischen Ozeans lag, jemals wieder ans Tageslicht befördern sollten. Möglicherweise, daß die Versicherung des Bootsverleihers die Yacht bergen wollte, um dem Eigentümer eine Schuld nachzuweisen. Und die Erben (es gab keine Erben) bekämen eine kleine Entschädigung. Barbara legt auf die Entschädigung keinen Wert. Sie findet es auch nicht tragisch, daß Harald auf dem Meeresgrund in einer Yacht aus Plastik seine womöglich letzte Ruhestätte gefunden hat. Er würde dort nach kurzer Zeit von kleinen Wassertierchen genauso zernagt und zerfressen sein, wie in einem kühlen Grab in der Heimat. Wo sollte die auch sein? Sie weiß nicht, wo Haralds Eltern beigesetzt sind und sie, würde sie Haralds Grab besuchen wollen?

      Bei den Eingeborenen gab es den Brauch, die Leiche am Lieblingsplatz des Verstorbenen auszulegen, um die wilden Tiere zu einem Festmahl einzuladen. Das Ansehen stieg unter den Hinterbliebenen, wenn sich zum Beispiel ein Löwe höchstpersönlich zur Beseitigung der sterblichen Überreste herabließ. Heute machen sie das natürlich nicht mehr, wegen der Hygiene, so ist es zu lesen im Journal der Fluglinie, die sie hierher gebracht hat.

      Barbara sitzt auf einer zu großen Couch in der riesigen Lobby, Regen trommelt aufs Palmendach, Wind kommt auf und das Meer verschwindet hinter einem Schleier aus Gischt, die an großen Schiebefenstern leckt. Unten kommt es durch, Regenpfützen sammeln sich, einige Gäste flüchten ins Trockene, nehmen lauthals Aufstellung an der Bar. Angestellte sichern im Garten die Möbel vor einem aufkommenden Sturm. Good morning, what can I do for you? Was darf ich ihnen bringen? Eine sehr junge, sehr hübsche Kellnerin beugt sich Barbara entgegen. Die bestellt Tee mit viel Zucker und blättert wieder in ihrem Heft, auch weil sie dem Blick ausweichen muß, den Kerstin vom Nachbartisch aus probeweise herüberwirft. Unverhohlen lauert sie dort, eine dicke, fleischige Frau mit praktischem Kurzhaar, verbringt sie Jahr für Jahr jeden Winter hier am Äquator und verbreitet mit rheinischer Mitteilsamkeit ungefragt ihr Wissen und ihre Erkenntnisse unter den winterbleichen Neuankömmlingen.

      Eine hungrige Katze schleicht zwischen den Tischen und reibt sich dann sanft an Barbaras Beinen. Sie bietet ihr Milch von ihrem Tablett und einen Keks an, den die Katze dankbar verschlingt. Na komm mal her. Du bist hungrig, was? Mit einer sanften Stimme, von der sie selbst überrascht ist, lockt sie die Katze und muß immer noch diesem Blick standhalten, der auf ein Zeichen der Hilflosigkeit wartet, um einzuspringen und Ratschläge auszuteilen.

      In der Mitte des Raums stehen kniehoch Ochs und Esel unter der Palme vor dem Stall von Bethlehem. Neben der Krippe ein Rentier aus Stoffresten kunstvoll zusammengenäht, mit einem Schlitten, in dem sitzt Father Christmas im colaroten Rock, mit Zipfelmütze, weißem Wattebart und verdächtig roten Wangen, dazu Rocking around the Christmas Tree, jetzt Stille Nacht in allen Sprachen und es erinnert sie an die Geschwister, mit denen sie ungeduldig unterm Weihnachtsbaum ausharren mußte, bis die Platte zuende war, Freue Dich ’s Christkind kommt bald, und endlich die Geschenke freigegeben wurden. Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Gegen sentimentale Weihnachtsstimmung ist Barbara immun. Weihnachten war immer nur ein leidiges Fest gewesen, bei dem sich alle aus der Familie in die Haare kriegten, das niemals so wurde, wie es sich alle gewünscht hatten, harmonisch und friedlich und obwohl sie sich die allergrößte Mühe gegeben hatten, ist es ihnen nie gelungen, die Katastrophe wenigstens mit einigem Abstand zu umschiffen, in seichten Gewässern zu kentern.

      Sie betrachtet die hungrige Katze. Ich weiß, Du hasts auch nicht leicht. Dreaming of a White Christmas, die ganze Zeit diese Weihnachtslieder und die meisten passen gar nicht hierher in die Tropen, aber die Gäste scheint das nicht zu irritieren, nur für Barbara fühlt es sich falsch an, seltsam unwirklich, weiße Weihnacht, Glöckchen am Rentierschlitten von Father Chrismas und man sitzt dazu leicht bekleidet in der Lobby eines komfortablen Hotels und bestellt ganz selbstverständlich am späten Vormittag schon spirituelle Getränke. Niemand hatte ihr gesagt, daß es hier regnen würde. Barbara fröstelt, sie hat nur ein dünnes Kleid an. Sie nimmt die Katze auf ihre Knie, damit sie sie wärmen mag, gegen den Kater, der ihr Hirn immer noch lahm legt. Sie mag nicht auf ihr Zimmer gehen. Sie mag die Unterlagen nicht durchsehen, die Uwe ihr hingelegt hat. Sie will noch warten. Außerdem hat sie ein Sandwich bestellt.

      Durchs Fenster beobachtet Barbara wie Marlene näher kommt, geradewegs aus dem Wasser scheint sie zu kommen, das Badetuch klebt an ihren Hüften, ihre dunklen Locken kleben an ihrem Kopf, den Regen bemerkt sie gar nicht. Unter einem Sonnenschirm gibt ihr der Wachmann ein trockenes Handtuch, sie nimmt es und rubbelt ihre Haare ein wenig damit. Sie lacht mit dem Wachmann, dann holt sie aus einer schwarzen Plastiktüte ein Päckchen mit Zigaretten, bietet dem Wachmann eine an, der will nicht. Sie redet auf ihn ein, schließlich steckt er zwei ein, dann begleitet er sie mit dem Schirm bis an die Schiebetür, öffnet diese einen Spalt breit durch den Marlene in die Lobby schlüpft und schließt die Tür schnell, bevor noch mehr Wasser reinkommt. Dann geht er weiter.

      Barbara weiß nicht, ob sie froh