Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig

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Название Tag 1 - Als Gott entstand
Автор произведения Stefan Koenig
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783742724809



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muss sie in Sprachen finden, die auch heute noch existieren. Zu diesen Ausgrabungen sind der Spaten, die Isotopenbestimmung oder die radiometrischen Bestimmungsmethoden untauglich. Man muss nicht in der Erde, sondern im Wörterbuch graben. Jedes Wörterbuch, jede Sprache enthält kostbare Reste der Vergangenheit. Das kann auch nicht anders sein, da die Sprache uns die Erfahrung von Hunderten und Tausenden von Generationen überliefert.

      Scheinbar eine einfache Sache, die Sprache zu untersuchen und zu studieren: Setz dich an den Tisch und wühle im Wörterbuch! --- In Wirklichkeit ist es aber anders. Auf der Suche nach der Sprache des Urmenschen wandern die Forscher über die Erde; sie erklettern Berge und fahren über Ozeane. So können sie vielleicht bei einem kleinen Volk, das hinter den Mauern der Gebirge, hinter undurchdringlichem Dschungel lebt, uralte Wörter finden, von denen in anderen Sprachen nichts übriggeblieben ist.

      Jede Sprache ist wie eine Station auf dem Weg der Menschheit. Die Sprachen der Jagdstämme von Australien, Afrika und Amerika sind solche Haltestellen, die wir schon kennen gelernt haben, und so haben die Altertumsforscher im vorigen Jahrhundert den Ozean überquert und entdeckten in Polynesien uralte Begriffe und Ausdrücke, die wir schon vergessen haben. Auf ihrer Suche nach Wörtern kommen die Sprachforscher in die Wüste des Südens und die Tundra des Nordens.

      Bei den Völkern des äußersten Nordens finden sie Wörter aus Zeiten, in denen es noch nicht den Begriff „Eigentum“ gab, als die Menschen noch nicht wussten, was „meine“ Waffe, „mein“ Haus bedeuten. Und gerade in diese Sprachen muss man eindringen, wenn man die Reste jener Redeweise finden will, die der Zeit entspricht, deren Werkzeuge die Archäologen ausgegraben haben.

      Aber nicht jeder kann ein Archäologe des Wörterbuches sein. Ohne Vorbereitung, ohne Kenntnisse werdet ihr hier nichts erreichen, denn die alten Wörter sind in der Sprache nicht so aufbewahrt wie in einem Museum. Sie änderten sich im Laufe von Jahrhunderten mehrere Male, sie gingen von einer Sprache in eine andere über, wuchsen zusammen, veränderten ihre Endungen und Vorsilben. Manchmal blieb von einem Wort nur eine alte Wurzel, wie von einem abgebrannten Baum. Nur an der Wurzel kann man noch erkennen, woher das Wort kam.

      Im Laufe der Jahrtausende änderte sich nicht nur die Form, sondern auch die Bedeutung der Wörter. Es geschah häufig, dass ein altes Wort eine neue Bedeutung bekam. Das geschieht übrigens auch heute noch. Wenn ein neuer Gegenstand auftaucht, so denken wir uns nicht immer ein neues Wort aus. Wir nehmen aus unseren Vorräten ein altes Wort und kleben es an das neue Ding an, wie ein Etikett.

      Der Fuchsschwanz, mit dem wir sägen, hat mit dem Schwanz eines Fuchses bestenfalls den Umriss gemein, und der Buchstabe hat heute nichts mehr mit einem Stäbchen aus Buchenholz zu tun. Es sind alte Wörter: Schwanz, Buche, Stab. Und mit ihnen bezeichnen wir neue Dinge.

      Das alles lagerte sich erst vor kurzem ab – in der obersten Schicht der Sprache. Daher erkennen wir mühelos die ehemalige Bedeutung dieser Wörter. Dringen wir aber tiefer, so wird die Arbeit schwieriger. Man muss ein großer Sprachkenner sein, um den verloren gegangenen ursprünglichen Sinn der Worte zu erforschen. Man fand, dass in manchen Sprachen das Wort für Pferd früher den Hirsch oder den Hund bezeichnete, da man Hunde und Hirsche vor den Pferden als Zugtiere benutzte. Es ist festgestellt, dass die ersten Ackerbauern das Brot mit dem Namen der Eichel benannten, da die Leute Eicheln gegessen hatten, ehe sie Brot zu essen begannen. Es gibt Sprachen, in denen der Löwe „großer Hund“ und der Fuchs „kleiner Hund“ genannt wird. Das kommt daher, dass der Hund früher bekannt war als Löwe und Fuchs.

      So fanden die Forscher allmählich die Bruchstücke der älteren Lautsprachen. In der jukagirischen Sprache zum Beispiel gibt es ein Wort, das, buchstäblich übersetzt, „Menschenhirschtötung“ bedeutet. Dieses lange Wort ist schwer auszusprechen und noch schwerer zu verstehen. Es ist unverständlich, wer wen getötet hat: der Mensch den Hirsch oder der Hirsch den Menschen oder der Mensch gemeinsam mit dem Hirsch einen Dritten, oder schließlich, ob ein Dritter den Menschen und den Hirsch tötete. Der Jukagire aber versteht dieses Wort. Er benutzt es, wenn er sagen will: „Der Mensch tötete den Hirsch.“

      Wie verhält es sich nun damit? Wie konnte solch ein sonderbares Wort entstehen?

      Es entstand zu jenen Zeiten, als der Mensch sich noch nicht „Ich“ nannte, als ihm noch nicht bewusst war, dass er selbst arbeitet, jagt, die Hirsche verfolgt und tötet. Er meinte, dass nicht er den Hirsch getötet habe, sondern sein ganzer Stamm. Und sogar nicht nur sein Stamm, sondern jenes geheimnisvolle Unbekannte, das die Welt regiert. Der Mensch fühlte sich noch sehr schwach und hilflos gegenüber der Natur. Die Natur gehorchte ihm noch nicht.

      Einmal, nach dem Ratschluss irgendeiner unverständlichen Kraft, ging die Menschenhirschtötung gut aus, das andere Mal endete die Jagd mit einem Misserfolg, und die Menschen kehrten mit leeren Händen nach Hause zurück. In dem Ausdruck „Menschenhirschtötung“ gibt es keine handelnde Person. Wie konnte auch der ursprüngliche Mensch begreifen, wer die handelnde Person war, er oder der Hirsch? Meinte er doch, dass der Hirsch dem Menschen von einem unbekannten Beschützer, von dem Vorfahren des Hirsches und des Menschen, übergeben worden sei.

      Wenn wir bei unseren Nachforschungen von den ältesten Schichten der Sprache zu den neueren vorstoßen, so werden wir immer wieder Reste aus jenen Zeiten finden, in denen der Mensch sich noch als Werkzeug in den Händen geheimnisvoller Kräfte fühlte.

      Hier ein Satz: „Das Fleisch gibt dem Menschen seinem Hunde.“

      Für uns ist dieser Satz unverständlich. Er stammt aus einer Sprachschicht, zu deren Zeit der Mensch noch anders dachte als wir, und will sagen: „Der Mensch gibt das Fleisch seinem Hunde.“

      Die Dakota-Indianer sagen nicht: „Ich stricke“, sondern „Die Strickerei durch mich.“ Als ob der Mensch eine Stricknadel wäre und nicht derjenige, der mit dieser Nadel arbeitet.

      Auch in Europa gibt es solche Reste alter Sprechweise:

      So sagen die Franzosen: „Il fait frois“, das heißt „Es ist kalt.“ Buchstäblich übersetzt aber bedeutet es: „Es macht kalt.“

      Da ist wieder jenes „ES“, das die Welt regiert.

      Warum aber in fremden Sprachen herumsuchen, wenn wir in der eigenen die Überreste früherer Formen finden, das heißt früherer Denkformen.

      Wir sagen: „Es regnet“.

      Wer regnet? „Es“, die geheimnisvolle Kraft!

      Oder ein anderes Beispiel: „Ihn schaudert“, „Ihn fiebert“. Was ist das für ein Wesen, das den Menschen schaudern und fiebern macht, sich an seiner Angst, seinem Unglück gar erfreut?

      Dieses gleiche, unbekannte, geheimnisvolle „Es“ steckt in den Ausdrücken „Es dämmert“, „Es wird Tag“, „Es schneit“. Wir glauben an keine geheimnisvollen Kräfte mehr, aber in unserer Sprache sind noch Überreste der mystischen Redeweise unserer Ahnen erhalten, die an diese Kräfte glaubten.

      Indem wir so die tieferen Schichten der Sprache freilegen, entdecken wir nicht nur die Wörter, sondern auch die Gedanken der früheren Menschen. Der ursprüngliche Mensch lebte in einer geheimnisvollen, ihm unverständlichen Welt, in der nicht er arbeitete und jagte, sondern irgendjemand mit ihm arbeitete, mit ihm die Hirsche tötete, in der alles nach dem Willen eines Unbekannten geschah.

      Die Zeit ging weiter. Und je kräftiger der Mensch wurde, umso klarer wurde ihm die Welt und seine Stellung in der Welt. In der Sprache erschien das „Ich“, erschien der Mensch, der kämpft, der handelt und sich die Dinge der Natur unterwirft.

      Wir sagen nicht mehr „Menschenhirschtötung“, sondern „Der Mensch tötet den Hirsch“.

      Und dennoch dringt manchmal in unsere Sprache der Schatten der Vergangenheit ein, denn wir sagen bis heute: „Es gelingt ihm“, „Es glückt ihm nicht“.

      Wer hat kein Glück? Was gelingt?

      Das Schicksal, das Fatum! Das ist jenes unbekannte Etwas, vor dem der Mensch der Vorzeit so große Angst hatte. Sie mussten sich als Sklaven der Natur, als Sklaven des Unbekannten fühlen.

      Machen wir einen Schritt