Wie in einem Spiegel. Eckhard Lange

Читать онлайн.
Название Wie in einem Spiegel
Автор произведения Eckhard Lange
Жанр Языкознание
Серия Antike Sagen - für unsere Zeit erzählt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738083668



Скачать книгу

machte keinen Hehl daraus, dass er Peer Yolck für inkompetent hielt, was die pharmazeutische Forschung anging.

      Bei ihm erfuhr Jason auch, dass es so etwas wie zwei Parteien innerhalb der Belegschaft und vor allem der mittleren Führungsebene gab: Die einen ersehnten sich auch nach zehn Jahren noch die Rückkehr von Jasons Vater und erhofften sich davon nötige Innovationen, die anderen, meist jünger und erst nachträglich in die Firma eingetreten, schworen auf Peer Yolck als Chef und hielten alles andere für nostalgische Schwärmerei. Aber die Sorge um die Zukunft angesichts stagnierender Verkaufszahlen und stets weiterentwickelter und neuer Mittel auf dem Pharmamarkt war allen gemeinsam.

      Eines Tages nahm Dr. Schmittbauer, so hieß der Laborleiter, Jason beiseite: „Ich hätte gerne einmal persönlich mit Ihnen gesprochen, nicht hier im Werk. Könnten wir uns irgendwo treffen? Es ist so wunderbares Sommerwetter. Wie wäre es mit einem Spaziergang durch die Wallanlagen?“ Jason, neugierig geworden, stimmte zu, und so verabredeten sie sich nach Feierabend am Mühlendamm.

      Die Sonne bot noch all ihre wärmende Kraft auf, das Wasser des Mühlenteiches spiegelte die hochragenden Domtürme, als Jason zum verabredeten Treffpunkt radelte. Er schloss das Rad an den Pfahl eines Verkehrsschildes und ging zum Wehr, wo Dr. Schmittbauer bereits auf ihn wartete. „Lassen Sie uns zum Kanal hinübergehen,“ sagte er, da gibt es am ehesten einen kühlenden Lufthauch.“ Schweigend überquerten sie die Wallstraße, passierten den großen Spielplatz mit seinem Wasserbecken und wanderten dann auf die Mühlenbrücke zu. „Wie geht es eigentlich Ihrem Vater,“ begann der Ältere das Gespräch. Jason berichtete, was er von seinen meist kurzen Besuchen zu erzählen wusste, und der andere hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. „Er fehlt uns,“ sagte er unvermittelt. „Ihr Onkel mag ein guter Kaufmann sein, aber von den Produkten, die er absetzen soll, hat er nur wenig Ahnung. Es gibt seit langem keine Innovationen mehr im Werk. Das letzte Ausbaupatent der Yolck Pharma stammt noch von Ihrem Vater, und auch das wird bald ausgelaufen sein. Dann sind wir nicht mehr allein auf dem Markt.“

      Jason hatte aufmerksam zugehört. „Davon verstehe ich leider nur wenig,“ sagte er, „außerdem lagert es in irgendeinem Tresor.“ „Wenn wir nicht rasch mit einem neuen Produkt kommen, wird es nichts mehr wert sein,“ antwortete Dr. Schmittbauer. „Und uns im Labor fehlen die Zeit, die Mittel – und auch die Ideen,“ ergänzte er. „Sie wollen doch Pharmazie studieren?“ fragte er dann ganz ohne Überleitung. Jason musste lachen. „Ehrlich gesagt, weiß ich es noch nicht. Aber die Richtung stimmt schon. Nur – ich habe keinerlei Einfluss auf die Firma, die einmal meinem Vater gehörte. Jetzt nicht, und wohl auch in Zukunft nicht.“

      „Dabei ist sie sein Werk, und sie ist Ihr legitimes Erbe,“ sagte der alte Mann bitter. „Ohne Eike Yolck wäre unser Unternehmen nicht das, was es heute ist – immer noch ist. Wir haben es alle sehr bedauert damals, als er so plötzlich wegging.“ „Ich weiß immer noch nicht, was genau damals geschehen ist.“ Jason suchte nach den richtigen Worten. „Der Vater spricht nicht darüber, und – im Vertrauen gesagt – der Version meines Onkels misstraue ich. Hatte mein Vater wirklich eines Schlaganfall?“ „So wurde es uns mitgeteilt, und wir mussten es glauben. Doch wenn Sie mich fragen – es war einzig seine Trauer über den plötzlichen Tod Ihrer Mutter, die ihn zeitweise behinderte. Und erst jener... Staatsstreich Ihres Onkels stürzte ihn in diese Depression, aus der er nicht mehr herausfand. Aber wenn er wieder an seinen Platz zurückkehren könnte...“ Dr. Schmittbauer vollendete den Satz nicht, er wusste, dass dieser Wunsch Illusion bleiben würde.

      Für eine Weile gingen die beiden stumm nebeneinander den Uferweg entlang. Dann sprach der Laborleiter endlich aus, was ihm auf der Seele lag: „Eike Yolck hat einen Sohn, der die nötigen Fähigkeiten besitzt, wenn er sich das fehlende Wissen aneignet. Und dieser Sohn hat ein Recht darauf, die Yolck Pharma KG zu übernehmen. Kämpfen Sie um Ihr Erbe, Herr Yolck, um Ihres Vaters Willen, und um des Werks und seiner Mitarbeiter Willen!“ Er blieb stehen und legte dem jungen Mann neben sich die Hand auf die Schulter: „Sie sind unsere letzte Hoffnung, Jason. Enttäuschen Sie uns nicht!“

      Jason spürte den Druck auf seiner Schulter, und er spürte mit ihm die Last, die der andere ihm mit diesen Worten auflud. Würde er sie tragen können? Aber er fühlte auch die Verantwortung, die ihm niemand abnehmen konnte. Er blickte dem Alten in die Augen: „Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde. Aber ich werde es versuchen!“ Es war dieser Augenblick, an dem er sich endgültig entschloss, um sein Erbe zu kämpfen.

      KAPITEL 8

       Jetzt, da alles vorbei ist, wo ganz andere Dinge mir das Leben als Leben verbieten, frage ich mich: Was hat mich eigentlich bewegt, einen Kampf zu beginnen, der nicht zu gewinnen war – einen Kampf, der mich im Grunde nichts anging. Denn diese Entscheidung hat meine ganze Zukunft geprägt, nein, sie hat sie zunichte gemacht. Sollte der Mensch sich nicht eigene Ziele setzen, einen eigenen Weg suchen? Sollte er nicht vorausschauen statt zurückzublicken auf eine Vergangenheit, die nicht die seine ist? -

       Deine Erkenntnis kommt spät, Jason Yolck. Zu spät. Aber du musst diese Frage beantworten, dennoch beantworten, denn nur so wirst du erkennen, was dein Leben zerstört hat. Und vergiss nicht: Es waren nicht die anderen – du warst es selbst, der hierfür verantwortlich ist. Geh in dich, es gibt viele Antworten: Trotz, Hass, Missgunst, Machtstreben, Ruhmsucht, Geldgier. Du musst dich erinnern! -

       Vergisst du nicht anderes? Kann es nicht auch ein Gefühl von Verantwortung gewesen sein – für jene Menschen, die den Vater begleitet haben, seinen Erfolg erst ermöglicht haben? Kann es nicht auch der Sinn für Gerechtigkeit gewesen sein – das Bestreben, dem Vater späte Genugtuung zu verschaffen? Ich habe doch gesehen, wie er plötzlich aufwachte aus seiner Todesstarre, wenigstens für Augenblicke wieder lebendig wurde in seinem Sarg, ich habe in seine seit langem erloschenen Augen gesehen, die auf einmal wieder zu leuchten begannen. Ich habe ihn nie wirklich lieben können, damals, als Kind, weil er mir so fern und unnahbar erschien. Das ist die Wahrheit. Und ich konnte ihn auch nicht lieben, als Mama starb, obwohl wir beide in unserer Trauer versanken. Denn wir haben verschieden getrauert, wir haben um einen verschiedenen Menschen getrauert, den wir verschieden geliebt hatten.

       Und diesen leidenden, einsamen, versteinerten Mann in seiner düsteren Höhle konnte ich schon gar nicht lieben, denn er machte mir Angst. Vielleicht fürchtete ich, mit hineingezogen zu werden in diese Dunkelheit, diese Verzweiflung, diese Todesstarre mitten im Leben. Doch dieses eine Mal habe ich ihn geliebt: Als er mich wahrnahm, mir eine Zukunft schenken wollte. Ja, ich habe es für ihn getan! -

       Bist du da so sicher, mein Freund? Schau mich an, schau dein Spiegelbild, und halte deinem eigenen Blick stand! Ich will mit dir rechten. Waren es wirklich so edle Motive, die dir diesen Kampf aufzwangen? Gerechtigkeit ist ein großes Wort, oft genug missbraucht für sehr kleinliche Dinge. Und Liebe? Mag sein, dass du ein besonderes Gefühl für den Vater hattest in jenem Moment, aber war das schon Liebe? Oder war das nur die Kehrseite deines Hasses auf den anderen, den Bruder des Vaters, der dir deine Jugend geraubt hat, wie du doch denkst, nicht wahr? -

       Ja, das hat er. Und ich habe ein Recht, ihn deswegen zu hassen. Doch ich hasse ihn auch, weil er den Vater ins Unglück gestürzt hat. Ich hasse ihn, wenn ich die toten Augen des Vaters sehe, den schleppenden Gang, die hilflosen Gesten. Ich hasse ihn dafür, dass ich meinen Vater nicht lieben konnte – außer in jener einen Stunde. Ist das nicht Grund genug? –

       Und darum wolltest du Rache üben? –

       Ja, darum! Denn er konnte sich nicht mehr rächen, obwohl es ihm zustand. Nicht die Firma, nicht das Geld waren mein Erbe, sondern seine Rache. Du sollst deinen Vater ehren, heißt es nicht so? Nicht lieben, aber doch ehren. Für seine Ehre habe ich all das tun müssen, auch wenn ich selbst daran zerbrochen bin. Lass mir diese Wahrheit, bitte, damit mein Leben seinen Sinn behält, auch jetzt, gerade jetzt, wo es nur noch in der Erinnerung existiert.

      KAPITEL 9

      Jason Yolck hatte Namen und Anschrift des Notars herausgesucht, der seinen Vater in früheren