Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-Minuth

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Название Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht
Автор произведения Sylvie Méron-Minuth
Жанр Документальная литература
Серия Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823301226



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Art in beiden Sprachen, die sowohl die pragmatische als auch die affektive und psycholinguistische Ebene betreffen, sind in der Realisierung der Kommunikation vorzufinden. In diesem Fall können nur rudimentäre Kommunikationsabläufe stattfinden, die zum Zwecke der Alltagsbewältigung dienen. Der Begriff der doppelten Halbsprachigkeit2 (double semilingualism) ist heute allerdings insofern strittig (vgl. Butzkamm 1993: 55, 2002; Riehl 2009: 74), als dass er suggeriert, das Individuum verfüge lediglich über unzureichende Kenntnisse in beiden Sprachen und habe damit eine Art Handicap aufzuweisen. Man spricht deshalb heute vom "doppelten" Erstspracherwerb.

      Zur Beschreibung und Erklärung der verschiedenen Formen der Zweisprachigkeit hat vor allem Jim Cummins (1979) gearbeitet. Er entwickelte die Interdependenz- oder auch Schwellenniveauhypothese, bestehend aus zwei Teilen.

      BICS steht für „Basic Interpersonal Communicative Skills“ und fasst die mündlichen Grundfertigkeiten und das sprachliche Leistungsvermögen eines Sprechers zusammen, die in der Alltagskommunikation interpersonal benötigt werden. Jedoch sind diese Kompetenzen für den schulischen Unterricht unzureichend; vielmehr werden einfache Satzkonstruktionen bzw. unvollständige Sätze verwendet.

      CALP steht für „Cognitive Academic Language Proficiency“ und beschreibt hingegen vor allem die Fähigkeit, schriftliche, kognitiv eher anspruchsvollere Fertigkeiten zu verstehen und zu verarbeiten. Während BICS sich in jeder Sprache tendenziell entwickeln kann, setzt CALP eine entfaltete Erstsprache für die zu erbringenden sprachlichen Leistungen in der Zweitsprache voraus. Somit ist im Bereich der BICS nach Cummins eine ausreichende Sprachkompetenz relativ schnell erreichbar, wohingegen für das Erlangen der CALP fünf bis sieben Jahre Lernzeit für altersentsprechende Schulkenntnisniveaus angesetzt werden müssten (vgl. Cummins 1979, 1984 und 2000; Apeltauer 2004; Fäcke 2010: 87f.). Diese exponierte Unterteilung hilft vor allem bei der Analyse von Sprachfertigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Durch Submersion liegen bei ihnen häufig nur niedrige, grundlegende konversationelle Sprachfertigkeiten vor.

      2.2.2 Mehrsprachigkeit

      Die genannten Wissenschaftsdisziplinen haben den Terminus Mehrsprachigkeit längst angenommen. Er ist Gegenstand linguistischer, psychologischer, soziologischer, erziehungswissenschaftlicher und nicht zuletzt fremdsprachendidaktischer Forschung. Dieses umfassend eingesetzte, komplexe Konzept fungiert meist als Oberbegriff, um Forschungen zum Zweit- bzw. Fremdsprachenerwerb und zum Bilingualismus einzuschließen (u.a. Franceschini 2009: 63; Lengyel 2017: 154).

      Der Begriff Mehrsprachigkeit ist ambivalent und wird vielschichtig ausgelegt. Einerseits bezieht er sich auf die Existenz mehrerer, unterschiedlicher Sprachen auf einem geografischen Gebiet, innerhalb eines individuellen oder gesellschaftlichen Systems, was als Multilingualität klassifiziert wird und die kollektive Mehrsprachigkeit beschreibt (vgl. De Florio-Hansen 2006; Wiater 2006: 51, De Cillia 2010). Andererseits nimmt Mehrsprachigkeit gewohntermaßen Bezug auf die menschliche Fähigkeit, in verschiedenen Sprachen verbal zu kommunizieren, was wiederum als Plurilingualität bezeichnet wird und auf die individuelle Mehrsprachigkeit fokussiert (vgl. Wiater 2006: 51; De Florio-Hansen 2006 sowie Näheres dazu in Kap. 2.2.2.2). Mehrsprachig sein bedeutet nicht zwingend:

      "[…] über volle Kompetenzen in zwei oder mehreren Sprachen relativ konstant [zu] verfügen." (Bausch 2003: 439)

      Aus sprachwissenschaftlicher Sicht fungiert Mehrsprachigkeit als Oberbegriff, um soziale, institutionelle und individuelle Formen der Aneignung von Sprachen für die gesamte Lebenszeit – z.B. Spracherwerb und Sprachlernen, unter anderem in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule – wie auch die konkrete Verwendung von Sprachvarietäten – im Alltagsleben, am Arbeitsplatz, in Institutionen bis hin zu deren Rechtsgrundlagen – zu bezeichnen (vgl. dazu z.B. Müller; Kupisch; Schmitz & Cantone 2006; Riehl 2009).

      In der Fremdsprachendidaktik und der Tertiärsprachenforschung wird eine Person als mehrsprachig bezeichnet, wenn sie auf der Basis der Kenntnis ihrer Muttersprache eingeschränkte Kenntnis in (mindestens) zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder in verschiedenen Diskursbereichen erworben beispielsweise gelernt hat, um gegebenenfalls soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen, Texte zu lesen oder noch Fachgespräche führen zu können (Bertrand & Christ 1990: 208; Christ 1991: 23–40; 2004: 31 und 2015; Hu 2011: 234).

      Entscheidend hier ist der zugrunde gelegte Sprachbegriff. Werden z.B. Dialekte und Soziolekte als eigenständige Sprachen gezählt, so kann jeder Mensch grundsätzlich als mehrsprachig angesehen werden, wie es Mario Wandruszka beschreibt:

      „Schon in unserer Muttersprache sind wir also mehrsprachig. Nach der regional, sozial, kulturell eng begrenzten Sprache unserer Kindheit ist die transregionale, transsoziale Kultursprache, die wir in der Schule lernen, schon gewissermaßen unsere erste Fremdsprache. Viele Menschen bestätigen uns das aus der Erinnerung an ihre eigene Kindheit.“ (Wandruszka 1975: 321)

      Lässt man aber ausschließlich Nationalsprachen gelten, so konstruiert man einen Monolingualismus, der erst durch das Erlernen von Fremdsprachen überwunden werden kann. Hinzu kommt das Kriterium der sprachlichen Kompetenz: da es sich – nach Hu (2000) – selten um eine ausgewogene Mehrsprachigkeit handelt, sei es ausschlaggebend, die Kompetenzniveaus in den diversen Sprachen zu bestimmen, damit überhaupt von Mehrsprachigkeit die Rede sein könne (vgl. Hu 2011: 214).

      Herbert Christ schlägt folgende Definition der Mehrsprachigkeit, im Anschluss an die Metapher vom Schwellen-Niveau / threshold level, zum Exempel nach Cummins (1984) vor:

      „Mehrsprachig ist eine Person, die in mehreren Sprachen die Schwelle in andere Sprachhäuser zu überschreiten gelernt hat.“ (Christ 2001: 2f.)

      Aufgrund der Tatsache, dass Sprache mit Kultur verbunden ist, ergibt sich aus der Mehrsprachigkeit immer eine Multikulturalität (vgl. Ahrens in Bausch 2004: 9; Minuth 2009; Christ 2015).

      Gemäß dem „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ (Europarat 2001) erscheint es uns aufgrund seiner Signifikanz sinnvoll, den Begriff Vielsprachigkeit und sein Unterscheidungskriterium zur Mehrsprachigkeit (auch Plurilinguismus) näher zu beleuchten und abzugrenzen.

      Die Fremdsprachendidaktiker Yves Bertrand und Herbert Christ, beispielsweise, betrachteten bereits in den 1990er Jahren das Konzept der Vielsprachigkeit – auch Multilinguismus (Englisch: multilingualism und Französisch: multilinguisme; vgl. Hu 2016) – als das Ergebnis von Migrationsbewegungen und deren Verwendung zahlreicher Sprachen auf einem selben Territorium, den gesellschaftlichen Charakter hervorhebend:

      « Chaque fois que cela semble à propos, il est important de distinguer le multilinguisme du plurilinguisme. Tandis que le premier est le résultat de la migration et de l’emploi de très nombreuses langues sur un même territoire, ce qui explique son caractère profondément social, le plurilinguisme est surtout de caractère individuel. » (Bertrand & Christ 1990: 44)

      Vielsprachigkeit unterstreicht auch das sozietale Phänomen der additiven Koexistenz und Kohabitation verschiedener Sprachen und Kulturen innerhalb eines geografischen Raums (Sprachgebiets), eines Staates und Staatengemeinschaften oder im Kopf eines Sprechers (vgl. u.a. Europarat 2001: 17 und 2007; Hu 2011 und 2016: 214; Christ 2015).

      Mehrsprachigkeit – auch Plurilinguismus genannt (Englisch: plurilinguism und Französisch: plurilinguisme; vgl. Hu 2016) – meint hingegen die individuelle Ebene eines Einzelnen, der eine persönliche, mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz entwickelt hat, die sich nicht aus dem schlichten Addieren einzelsprachlicher Kompetenzen zusammensetzt. Vielmehr handelt es sich um eine sprachenübergreifende Kompetenz, auf die in variablen Interaktionen und in kommunikativen Situationen mit einem Gesprächspartner flexibel Bezug genommen wird. Sie wird kombiniert und vielfältig transversal vernetzt1 (vgl. u.a. Le Pape Racine 2005: 105 und 2009: 15; Martinez 2015: 8). Mehrsprachigkeit verweist somit auf die Fähigkeit eines Menschen, mehr als eine Sprache neben der Muttersprache, verbunden mit dem Wissen um die kulturelle Einbettung der Sprachen, unmittelbar aktiv und passiv gebrauchen und sich in ihr ausdrücken zu können (Wiater 2006: 59). Sie wird als Schlüssel zur Verständigung zwischen den europäischen Völkern anerkannt, als Vermittler