Spanische Literaturwissenschaft. Maximilian Gröne

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Название Spanische Literaturwissenschaft
Автор произведения Maximilian Gröne
Жанр Документальная литература
Серия bachelor-wissen
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300113



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Ein literarischer Text lässt demnach notwendigerweise eine relativ große Unbestimmtheit vor allem in Bezug auf Konkretes – was der Leser bei dem Wort „Haus“ denkt, ist individuell unterschiedlich, während ein Film eben dies sehr viel konkreter und detailgenauer steuert, wenn er „Haus“ ‚sagt‘, d.h. ein solches zeigt. Umgekehrt hat Literatur durch ihre mediale Grundlage eine besondere Stärke eben in der Darstellung von Abstrakta – ein Text kann „Friede“ sagen, ein Film muss, will er sich nicht seinerseits der Sprache bedienen, sondern auf sein Zeichensystem rekurrieren, Bilderfolgen entwickeln, die dem Zuschauer diese Bedeutung suggerieren, mit einem freilich viel höheren Aufwand auf der Ausdrucksseite und einer Fülle nicht relevanter Informationen. Arbiträr (willkürlich) sind sprachliche Zeichen in der Regel, weil zwischen ihrem SignifikantenSignifikant/Signifikat und ihrem SignifikatSignifikant/Signifikat keine Motivation, d.h. natürliches Verhältnis (Ursache-Wirkung, Urbild-Abbildung o.ä.) besteht, sondern Ausdruck und Bedeutung nur durch Konvention aneinander gebunden werden – es ist nicht zwingend, ein Gebäude variabler Größe mit Fenstern und Türen mit der Lautfolge <haus> zu bezeichnen, man kann es auch <casa>, <maison> oder beliebig anders nennen, wenn sich eine Sprechergemeinschaft im Gebrauch darauf einigt. Literatur ist unmittelbar abhängig Kultureller Code von der Konvention eines Codes – ein Text in einer unbekannten Sprache ist noch nicht einmal hinsichtlich des Wortlauts verständlich, von symbolischen Bedeutungen ganz abgesehen –, während der Film zunächst einmal seinen Ausdruck jenseits eines Codes vom gefilmten Objekt selbst erzeugen lässt, das Zeichen also höher motiviert ist, abbildet – was nicht heißt, dass im Film nicht auch kulturelle Codes eine zentrale Rolle spielen und ein Film nicht jenseits der unmittelbaren Bildinhalte völlig unverständlich sein kann.

      Literatur in verschiedenen ‚AufschreibesystemenAufschreibesystem‘ (Friedrich Kittler) Die Funktion, die eine Kunstform für eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt übernimmt, liegt dabei nicht allein in ihren eigenen medialen Möglichkeiten begründet, sondern ergibt sich auch aus dem Verhältnis zu konkurrierenden Kunstformen mit anderen medialen Grundlagen. Für dieses mediale Umfeld hat der Literatur- und MedienwissenschaftlerMedien Friedrich Kittler (1943–2011) den Begriff ‚AufschreibesystemAufschreibesystem‘ (span. sistema de registro) geprägt. Er versteht darunter „das Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben“ (Kittler 2002: 501), also sowohl die zu einem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden MedienMedien (Datenträger und Zeichensysteme) als auch Einrichtungen wie Schulen oder Verlage, die den Umgang mit und den Zugang zu ihnen regeln. Die Rolle des AufschreibesystemsAufschreibesystem für ein MediumMedium und die auf ihm beruhende(n) Kunstform(en) veranschaulicht Kittler eindrücklich in der Gegenüberstellung zweier historischer Momente: 1800 und 1900. Um 1800 hatte die Schrift das Monopol serieller Datenspeicherung. Es war das einzige MediumMedium, das Vorgänge in ihrer Prozesshaftigkeit festhalten konnte. Diese Speicherung funktioniert nur über menschliches Bewusstsein: keine Aufzeichnung ohne jemanden, der sie durchführt, niederschreibt. Insbesondere Sprache ist nur durch Schrift speicherbar. Die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Schrift als das UniversalmediumMedium begriffen wurde, war eine millionenfache Alphabetisierung, bei der erstmals laut gelesen, Schrift an Stimme gekoppelt wurde. Im Gegensatz zu bisherigen Lernmethoden, die auf dem stummen Auswendiglernen von Wortgestalten bzw. (Bibel-)Versen beruhten, und zur mittelalterlichen Schriftkultur, in der Schreiber oft lediglich Kopisten waren und das von ihnen Kopierte gar nicht lesen konnten, sich also nur mit dem Zeichenträger (Buchstaben) ohne Bedeutung befassten, wurde nun dieser gleich hin zu den Lauten übersprungen, d.h. zur gesprochenen Sprache, die, so die implizite Annahme, das Denken selbst repräsentierte. Schrift wurde dadurch nach Kittler immateriell, da man die Materialität der Sprache (Tinte auf Papier, Sprechen als Körpertechnik) aus dem Blick verlor. Und sie wurde universal, weil sie das einzige serielle SpeichermediumMedium war, nunmehr von großen Teilen der Bevölkerung benutzt und zudem als Verkörperung des Denkens selbst aufgefasst wurde. Für die Dichtung als sprachliche Kunstform bedeutete dies: Da Denken und Vorstellungskraft die Grundlage aller menschlichen Produktion und insbesondere der Kunst ist, ging man davon aus, alles sei in Sprache überführbar, also auch Malerei und Bildhauerei, die im Gegensatz zur Dichtung an Materie (Leinwand, Stein usw.) gebunden schienen, d.h. jedes beliebige Artefakt sei letztlich ohne Informationsverlust in Dichtung zu übersetzen. So wie Schrift ‚UniversalmediumMedium‘ war, war Dichtung ‚Universalkunst‘.

      

Abb. 1.5

      Dichtung im AufschreibesystemAufschreibesystem von 1800

      AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900 Die technischen Neuentwicklungen des 19. Jh., insbesondere das Grammophon und der Film, verändern diese Situation grundlegend und führen zum AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900. Sie ermöglichen nun serielle Datenspeicherung ohne menschliches Bewusstsein und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Grammophon und Film speichern dabei das Reale selbst (Schallwellen auf Wachswalze, Lichtwellen auf chemisch behandeltem Papier) und nicht mehr symbolische Repräsentation (etwa in Buchstaben, die Laute verschriften) oder Bedeutung. Da gesprochene Sprache in ihrer individuellen Gestalt (Stimme) konservierbar wird und äußere Wirklichkeit durch detailreiche bewegte Bilder gespeichert werden kann, ist klar, dass Schrift und mit ihr Literatur nun nicht mehr universal sind. Zudem führen die neuen Aufzeichnungssysteme vor Augen, dass auch geschriebene Sprache von einem materiellen Zeichenträger abhängig ist – sie verliert ihren Status als quasi immaterielles MediumMedium. Neue MedienMedien und die entsprechenden Kunstformen ersetzen alte nicht, aber sie weisen ihnen neue Systemplätze zu, wie Kittler betont: Die ehemalige Universalkunst ‚Dichtung‘ weicht einer Schriftkunst ‚Literatur‘, die ihre Aufgaben neu zu bestimmen hat. Ihr bleiben mehrere Möglichkeiten. Sie kann sich (1) auf den Bereich konzentrieren, der von den konkurrierenden MedienMedien nicht oder unzureichend erfasst wird. Dazu gehört, wie wir oben bereits sahen, alles, was nicht konkret (‚real‘) oder bildhaft (‚imaginär‘), sondern abstrakt (‚symbolisch‘) ist; so werden sprachliche Zeichen nicht mehr in den Dienst einer Wirklichkeitsabbildung gestellt, die von anderen Künsten wie der Fotografie besser zu leisten ist, sondern absolut gesetzt – eines der poetologischen Hauptmerkmale des bereits erwähnten Futurismus. Sie kann (2) die Wiederentdeckung der materiellen Zeichen feiern, indem sie mit Buchstaben statt (oder zusätzlich zur) Bedeutung spielt; ein Beispiel hierfür ist das Kalligramm von Guillermo de Torre (Text 1.2). Oder sie ordnet sich (3) den (zunehmend erfolgreichen) KonkurrenzmedienMedien unter, indem sie MedienwechselMedien (z.B. VerfilmungLiteraturverfilmung) bereits in der Machart des Textes einkalkuliert. Mitunter sind etwa filmische Verfahren auch im Hinblick auf eine selbstbewusste Erneuerung für Literatur adaptiertAdaption worden, z.B. in Gestalt einer Nachahmung von Schnitt und Größeneinstellungen in der Erzähltechnik von RomanenRoman (siehe Einheiten 8 und 9).

      

Abb. 1.6

      Literatur im AufschreibesystemAufschreibesystem von 1900

      Zusammenfassung Ausgehend von Textbeispielen aus der spanischsprachigen Literatur konnten wir in der zurückliegenden Einheit eine Reihe von literarischen Merkmalen beschreiben, die durchaus dem Allgemeinverständnis vom Wesen und Anspruch der Literatur entsprechen und dieses konkretisieren. Zugleich stellten wir fest, dass es keine absoluten Kriterien für Literarizität gibt, sondern dass die Zurechnung eines Textes zur ‚Literatur‘ sehr stark durch den Kontext und den jeweiligen Umgang einer Gesellschaft oder eines Individuums mit ihm bestimmt wird. Charakterisiert man sehr allgemein Literatur als geschriebene Sprache, so richtet sich der Blick auf ihre medienspezifischenMedien Funktionsbedingungen, die anhand einer historischen Gegenüberstellung von 1800 vs. 1900 illustriert wurde.

      Aufgabe 1.6 ? Erstellen Sie ein grafisches Resümee der Ausführungen zum LiteraturbegriffLiteraturbegriff. Rubrizieren Sie dabei die verschiedenen Eingrenzungsvorschläge und notieren Sie, farblich abgesetzt, jeweils Einwände und Gegenbeispiele. Eine Möglichkeit hierfür wäre eine Baumstruktur:

      Literatur