Название | Das Rauschen unter der Choreographie |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Forum Modernes Theater |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823301530 |
Vielleicht aber muss man auch die Rezeption noch einmal nach Interessengruppen differenzieren. Niemand, nicht einmal Duchamp, empfand es als stillos, dass das Werk verschollen und die Aufregung um den Fall von relativ kurzer Dauer war. In der ihm eigenen Haltung der Indifferenz hatte Duchamp zwar spezifische Fährten für die Rezeption der Ready-mades ausgelegt, deren Rezeption als Kunstwerk und seine Autorschaft daran jedoch sicher nicht forciert, weil er sie als eine Form ansah, »Ideen abzuladen«4 und nicht als neuen Stil propagierte. So muss also angenommen werden, dass die Künstlerszene, in der Duchamp verkehrte und in der er als etwas enigmatischer Kollege hohe Aufmerksamkeit genoss, das Fountain und das Motiv der Alltagsgegenstände in der bildenden Kunst auch von anderen Künstlern her kannte, wie etwa in Francis Picabia Amorous Parade (1917), Morton Schambergs God (1918) oder Man Rays Man (1918). Ein Alltagsgegenstand im Feld der Kunst erregte also bei Insidern möglicherweise keine besondere Beachtung. Von einer breiteren Öffentlichkeit wurde Fountain erst aufgenommen durch eine sich selbst verstärkende Rezeption, in der der Coup einmal mehr kolportiert wurde und sich die diversen Bezüge allmählich herauskristallisierten, die hinter der Signatur steckten. Damit wurde allerdings zugleich deutlich, dass weniger die Herstellungstechnik, sondern mehr die Zuschreibung eines persönlichen Stils auf Duchamp ein Kriterium der Kunstbewertung geworden war.
Für die Frage nach der Funktion des Stilbegriffs hat dieser Coup zwei gravierende Folgen: Seit Duchamps Ready-made verliert das von Wollheim aufgemachte Bestimmungsmerkmal, die Beherrschung einer anerkannten Technik, zunehmend an Bedeutung. Die Serialität in der Pop Art, das Sampling in der Musik, die soziale Plastik bei Beuys oder die Institutionskritik in der Body Art wären weitere Beispiele für diese avantgardistische Strategie.
Seit Duchamps Ready-made ist zugleich eine Tendenz zu Individualisierung und damit auch eine Ausweitung des Stilbegriffs auf ästhetische Phänomene aller Lebensbereiche zu beobachten. Selbstverständlich ist von Lebensstil, Erziehungsstil, Programmierstil, Fahrstil etc. die Rede. Stil wird in dieser Denklinie zu einem Synonym für Haltung, sei es eine kritische oder affirmative. Der Philosoph Richard Shustermann spricht in diesem Sinne von einem »personal style«.5
Gilt also eine umfassende Personalisierung und Verinnerlichung des Stilbegriffs, wie es der Sinnspruch »Mode muss man kaufen, Stil muss man haben« nahelegt? Oder gilt umgekehrt, dass Stil eigentlich ein Synonym für Technik geworden ist, dem die Haltung des Künstlers oder der Künstlerin kontrastiv zur Seite gestellt wird? Von dieser Beobachtung ging immerhin das Symposion Das Rauschen unter der Choreografie – Überlegungen zu ›Stil‹ aus. Im Konzept der Veranstaltung wird dabei ein Auseinanderdriften von alltäglichem und künstlerischem Gebrauch des Stilbegriffs konstatiert und letzterem dabei attestiert, – zumindest im Tanz – »keine attraktive Kategorie mehr zu sein«6. Der folgende Beitrag ist diesem Wandel des Stilbegriffs gewidmet, der in einer die Künste vergleichenden Perspektive dargelegt wird. An Beispielen der bildenden Kunst, der Schauspielkunst, des Tanzes und der Architektur wird aufgezeigt, in welcher Weise der generische Stil in eine Krise gerät. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich nicht um ein Oberflächenphänomen handelt. Vielmehr kann am Bedeutungsverlust des Stilbegriffs eine neoliberale Öffnung und Individualisierung des vorherrschenden Verständnisses von künstlerischer Tradition aufgezeigt werden, die auch das Verständnis von künstlerischen Techniken insgesamt erfasst. An die Stelle der Berufung auf eine künstlerische Tradition und ein tradiertes Handwerk tritt nun, vereinfacht gesagt, die Spekulation auf eine zukünftige Akzeptanz der eigenen Kunst. Dieser grundlegende Zusammenhang zwischen Individualisierung und Technikverständnis wird mit Blick auf Überlegungen des Soziologen Ulrich Beck eingeführt, um der aktuellen Stildiskussion – nicht nur im Tanz – eine historische und soziologische Dimension zu verleihen. Denn keineswegs geht es in der Bewertung des Stilbegriffs nur um eine auffällige Verkehrung, die darin bestünde, dass einige Künstler den Stilbegriff ablehnen, während eher traditionsbewusste und einem Kanon verpflichtete Künstler dies nicht tun und wiederum in den Populär- und Alltagskulturen fröhlich eine (Selbst-)Stilisierung betrieben wird. Grundlegender als dieses Für und Wider der Stilbestimmung ist die kulturökonomische Machtfrage, die ja bereits Duchamp implizit zum Gegenstand seiner Intervention machte: Welche gesellschaftlichen Zusammenhänge bestimmen, ermöglichen oder verhindern die Entwicklung technischer und stilistischer Merkmale und nach welchen Regeln wird Stil zu- und umgeschrieben oder auch verweigert? Diesem Zusammenhang soll in vergleichender, historischer Perspektive nachgegangen werden.
Dabei wird es insbesondere um die Legitimation von Stilentscheidungen gehen, die am Beispiel einiger Grenzfälle im Feld der Kunst darzulegen sind: dem Tanz von geistig und körperlich Behinderten und der Dombauarchitektur. Daran anknüpfend gilt es mit Blick auf das deutschsprachige Literaturtheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu zeigen, dass der Wandel des Stilbegriffs in den Künsten und der Alltagskultur kulturpolitisch motiviert ist. Zunächst aber ist etwas Theorie vorwegzuschicken, um genauer darzulegen, was es mit der These vom Auseinanderdriften des personellen und generischen Stils auf sich hat.
Stil, Technik und Spekulation
Aus soziologischer Perspektive kann man die Unterscheidung von generischem und personellem Stil als eine Tendenz zur Individualisierung auffassen, der eine Tendenz zur Standardisierung zur Seite steht. Ulrich Beck beschreibt dabei deren Zusammenspiel in seinen Analysen zur Zweiten Moderne wie folgt: »Eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewirken auch eine Standardisierung.«1 Ein wichtiger Wesenszug der Technisierung sei es dabei, so Beck, Dinge und Prozesse so zu standardisieren und vergleichbar zu machen, dass sie von individuellen Können und Entscheidungen abgekoppelt werden.
Wir können die von Beck (und bereits von Weber) formulierte Dialektik von Individualität und Standardisierung auf die Künste übertragen. Werfen wir dazu einen Blick auf die Pop Art: Andy Warhol arbeitete bekanntlich in seiner Factory mit Verfahren des industriellen Siebdrucks, wobei er seine Ausbildung und Kenntnisse als Druckgrafiker nutzte. Zugleich umgab er diese Kunstproduktion mit einem auffällig individuellen Lebensstil, unter anderem in seiner als Kitchen bezeichneten persönlichen Lebenswelt, seiner Wohnung. Die Individualität löste sich bei Warhols Kunst also vom bildgebenden Verfahren, das mit der industriell-technischen Massenfertigung von Gebrauchsgrafik identisch ist, ab und verlagert sich auf bisher sekundäre Faktoren der Kunstproduktion, wie die Lebensführung des Künstlers, die Auswahl und Anordnung der Sujets, die Signatur und Kontrolle der Reproduktionen und die Vermarktung der Kunstprodukte und des Künstlerimages.2
Warhols Beispiel ist interessant, wenn man es mit Becks weiteren Ausführungen zusammenführt, in denen er sich der dynamischen Entfaltung von Technologie in der Zweiten Moderne widmet. Beck geht der augenfälligen Entwicklung nach, dass Technik weniger ein Mittel darstellt, welches dem Zweck der Kunstwerkproduktion untergeordnet sei. Technik sei vielmehr prozessual zu verstehen in dem Sinne, dass sie vor allem weitere Techniken hervorbringe. Die Erfindung der Druckpresse etwa evoziert Verfahren der Typenherstellung, modifiziert die Papierproduktion und bringt neue Techniken der Distribution und Rezeption von Druckerzeugnissen hervor.3 Um diese temporale und dynamische Struktur besser zu verstehen, rückt Beck die Frage der Technik in den Zeithorizont von Spekulation, Risiko und Zukunft ein. Seiner Idee der Standardisierung und Individualisierung (von Stil) liegt dabei ein Risikokalkül zu Grunde: Je mehr Risiken technologisch minimiert werden sollen, so seine Analyse, desto mehr lebten wir allerdings in einer als dramatisch empfundenen und beschriebenen Antizipation von Risiken. Folglich werde die technologische Entwicklung dahingehend gesteuert, Risiken abzuwehren, die wiederum technische Risiken hervorbrächten – ein Teufelskreis. Da zukünftige, technologisch induzierte Risiken jedoch komplex und folglich immer schwerer zu kalkulieren seien und da sie in ihrem Ausmaß katastrophal sein können, wie Atomunfälle oder der Klimawandel zeigten, bestimme die Antizipation der Katastrophe weite Teile der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieses Risikokalkül