Das eigene Leben. Niklaus Meienberg

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Название Das eigene Leben
Автор произведения Niklaus Meienberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038551676



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      Über dieses Buch

      Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

      Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Das eigene Leben» aus Band 1 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

      Inhalt

      Aufenthalt in St.Gallen (670 m ü.M.). Eine Reportage aus der Kindheit

      Wach auf du schönes Vögelein

      O du weisse Arche am Rande des Gebirges! (1133 m ü.M.)

      250 West 57th Street

      Memoiren eines Chauffeurs

      Die Enttäuschung des Fichierten über seine Fiche

      Diese bestürzende, gewaltsame, abrupte Lust

      Der souveräne Körper – ein veräusserliches Menschenrecht

      Foto Roland Gretler

      Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

      Niklaus Meienberg

      Das eigene Leben

      Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

      Limmat Verlag

      Zürich

      Aufenthalt in St. Gallen (670m ü.M.)

      Eine Reportage aus der Kindheit

      Aus wirtschaftlichen Überlegungen in die Schweiz getrieben, unter anderem nach St. Gallen, wo ich aufgewachsen bin, denn ein Motorrad kostet in der Schweiz ein Drittel weniger als in Frankreich, weil die Mehrwertsteuer wegfällt, aber wirklich nur gekommen, um diese Maschine zu kaufen und dann sehr schnell zu verzischen hinunter ins Pariserbecken, wurde ich im vergangenen April durch die anhaltend schlechte Witterung und ein für die Jahreszeit unverhältnismässig heftiges Schneetreiben in meiner Vaterstadt länger als geplant zurückgehalten, so dass der knirschend akzeptierte Aufenthalt ein Wiedersehn mit den Gespenstern der Kindheit ermöglichte.

      *

      Im Vaterhaus noch die Uhren und das alte Holz, die gedrechselten Lampen, ehemalige Ochsenjoche und Spinnräder, die der Vater zu Beleuchtungskörpern umgebaut hatte, drunten in seinem Reich der Drechslerwerkstatt neben der Zentralheizung, wo er auch die Uhren reparierte. Der Vater ist vor zwei Jahren gestorben auf seine stille Art, liegt jetzt auf dem Ostfriedhof unter einem schmiedeisernen Kreuz, von Maler Stecher leicht aufgefrischt. Wenn die Russen dann in St. Gallen einmarschieren, werden sie mit ihren Stiefeln nicht über die Gräber des Ostfriedhofs zu trampeln vergessen, denn sie haben keine Pietät. Das hatten wir in der Schule gelernt beim Lehrer Ziegler zur Zeit des Koreakrieges, im Krontalschulhaus bei den Kastanienbäumen. Die Russen wollten St. Gallen als Einfallstor benutzen, wie schon Hitler. St. Gallen ist ein unübertreffliches Einfallstor, das war ja auch den Hunnen aufgefallen. Der Vater hatte im Hinblick auf seinen Tod schon jahrelang Grabkreuze gesammelt, die nicht benützten hängen jetzt im Keller neben der Waschküche. So hat er vorgesorgt für seine ganze zahlreiche Familie, die jetzt in der Welt draussen zerstreut ist. In St. Gallen geblieben ist keines.

      Der Vater war nicht nur ein Grabkreuzsammler, sondern ein Uhrensammler, in erster Linie. Die Uhren haben ihn überlebt und ticken auf ihre verschiedenen Arten. Die getriebenen Zifferblätter mit ihrem Kupferschimmer, die Bleigewichte, Uhrenschlüssel, die Unruhen in den Uhren, ziselierte Gehäuse, mannigfaltige Töne beim Viertelstundenschlag, mit Samt unterlegte allegorische Figuren, die grünlich getönten Summiswalder, auch zwei seltene Zappeler und eine vom Hofuhrenmacher Ludwigs XIV., Louis Martinot, und die vielen Perpendikel. Es tickte, knackte, tönte aus allen Ecken, es schlich auf vielen Zifferblättern, es ging ringsum, ringsum. Den Vater hatte es schon früh gepackt, so dass er überall im Ausland Uhren suchen musste, aus Wien und vom Flohmarkt in Paris kam er mit barocken Stücken heim. Einmal kam er mit einer Orgeluhr nach Hause, die zwölf verschiedene Volksweisen pfiff, für jede Stunde eine andere. «Jetzt gang i ans Brünnele, trink aber net» war die Einuhrmelodie. Diese Uhr war hörbar bis zur Tramhaltestelle St.Fiden, wo die Leute aufhorchten, wenn es hinausdrang in die Mittagsstille. Eine andere Uhr hat er heimgebracht mit einem ovalen kupfernen Zifferblatt, darauf war ein Lustgarten eingraviert, in der Mitte des Gartens ein Brunnen mit Frauenstatue, die Wasser aus ihren Brüsten spritzte, zwei Sprutz Liebfrauenmilch ins Becken, dem sich höfisch gekleidete Männer näherten, die ihren Frauen unter die Röcke griffen, ca. 1730, aus dem süddeutschen Raum. Wohin sie griffen, habe ich erst in der Pubertät begriffen, vorher war es für mich einfach ein golden schimmerndes Zifferblatt, aber in der Pubertät stand ich oft vor dieser Uhr und spürte meinen Schwengel wachsen. So hat mein Vater die Zeit gesammelt, die ihm sonst viel schneller verrieselt wäre, und hat die Zeit konzentriert in seinem Haus eingeschlossen, die vergangene höfische Weltzeit aus Frankreich und der Donaumonarchie. In dem verwunschenen Haus war alles gerichtet für den Empfang des Kaisers, vergilbte Stiche und Zinnplatten und alte halbblinde Florentinerspiegel und Intarsienschränke und Meissner-Porzellan und die Uhr des Hofuhrenmachers Louis Martinot und Silberbesteck, aber der Kaiser ist nicht gekommen, also füllte der Vater den Rahmen mit den nächstbesten Leuten, die zu haben waren, zu denen er nicht gehörte, zu denen er aber aufschaute, der Vater war nämlich dem Kleinbürgertum zugehörig, christlichsozial gestimmt sein Leben lang, war Revisor bei der Darlehenskasse System Raiffeisen, beruflich gesehen hätte er Umgang haben müssen mit Prokuristen und Kassierern. Doch der gediegene Rahmen schrie nach einem gediegenen Bild, und darum haben uns die Uhren einen leibhaftigen Bundesrat ins Haus getickt, Holenbein oder Holenstein oder Holbein, ich weiss nicht mehr genau, auch päpstliche Hausprälaten und Gardekapläne und sogar die Witwe Saurer, die Lastwagenerbin aus Schloss Eugensberg. Diese war sehr herablassend. So pendelte der Vater zwischen den Klassen, ein ewiger Perpendikel. Jetzt gang i ans Brünnele, trink aber net. In den Vater war eine Unruhe eingebaut.

      Wenn man aus dem Haus nach Norden geht, ist man sofort beim Primarschulhaus. Noch immer die Gerüche aus der Kindheit, die Bodenwichse und der Kiesplatz, nur der Abwart Merz ist nicht mehr da. Und dort hinter der Tür im ersten Stock das Pissoir, schwarz gestrichen, wo der Lehrer Tagwerker, der immer von Müllern und Mühlsteinen und Mühlrädern vorlas, jeden Tag pünktlich um fünf nach zehn brünzelte, es klappert die Mühle am rauschenden Bach klippklapp, man konnte seine Uhr danach richten, wenn man schon eine geschenkt bekommen hatte zur Firmung oder Konfirmation. Wir wurden angehalten, ebenso pünktlich zu brünzeln in der Pause. Nicht alle haben es gelernt, Seppli Allenspach, der immer in löchrigen Strümpfen und mit seiner Schnudernase in die Schule kam vom Hagenbuchquartier herunter und der später in der Nähe des Gaskessels wohnte, hat es nie kapiert, streckte mitten in der Geschichte vom Grafen Eichenfels seinen Arm auf und wollte hinaus, musste sein Wasser zur Strafe dann einige Minuten zurückbehalten. Er ist dann auch in der dritten Klasse sitzengeblieben. Der Lehrer war kein Tyrann, nur sehr ordentlich, er galt als Reform-Lehrer, hatte viele neue pädagogische Ideen, Tatzen haben wir selten bekommen. Bei ihm haben wir auch gelernt, dass man die Tätigkeit des Scheissens nicht Scheissen nennen darf, sondern: ein Geschäft machen, äs Gschäft, auch seichen durften wir nicht mehr, sondern nur noch brünzeln oder brünnele. Sehr jung haben wir gelernt in St.Fiden-St. Gallen, dass ein Geschäft etwas Selbstloses ist, man gibt das Liebste her, das man hat, und verspürt Erleichterung dabei. Oder war damit etwas Schmutziges, aber Naturnotwendiges gemeint? Jedenfalls war Geben und nicht Nehmen gemeint. Rolf Ehrenzeller, der Sohn des Tramkondukteurs, und Seppli Allenspach haben weiterhin geschissen bis weit in die dritte Klasse hinauf, vielleicht machen sie auch heute noch keine