Название | Kritik der digitalen Unvernunft |
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Автор произведения | Matthias Eckoldt |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | update gesellschaft |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783849783594 |
Die im Ergebnis effizient gerittene Attacke auf das Buch ist deshalb so bezeichnend, weil es sich dabei um eine neoliberale Deregulierung des zentralen Wahrheitsmediums der westlichen Welt handelt. Denn der Buchdruck setzte Mitte des 15. Jahrhunderts einen völlig neuen Erkenntnisstandard und zugleich eine fundamentale Umstrukturierung des Weltwissens in Gang. Durch Gutenbergs Erfindung trat an die Stelle des Einzelexemplars der Handschrift die gedruckte Vielzahl der Auflage. Während ein Schreiber im mittelalterlichen Skriptorium etwa drei Jahre benötigte, um eine Bibel vollständig abzuschreiben, druckte Gutenberg dank seiner Erfindung der beweglichen Lettern von 1451 bis 1454 180 identische Exemplare. Die Disruption durch den Buchdruck erzeugte das Diktat gleichförmiger typografischer Einheiten in Standardgröße, die Standardseiten bilden, die sich ihrerseits zu Standardkapiteln ordnen und in Standardbüchern zusammengefasst sind. Der Begründer der Medientheorie, Herbert Marshall McLuhan, vermittelte eingängig, dass dieses typografische Prinzip über die Inhalte ins Auge und Hirn der Leser eindringt. Nicht von ungefähr beginnt der Mensch, seine Welt so wahrzunehmen und zu gestalten, wie es ihm das Medium des Buchdrucks vormacht: Alles wird in kleinste Einheiten zerlegt, wird klassifiziert, analysiert, mit Zahlen versehen, mit Indizes, mit Standardüberschriften und Titeln. Die menschliche Wirklichkeit wird immer mehr zum Buch, weil die mediale Erfolgstechnologie den Menschen die Welt nach dem Schema des Buchstabens geradezu zerstückeln lässt und ihm in Form des Buches demonstriert, wie sie wieder zusammengesetzt werden kann. Wahrnehmung geschieht im Gutenberg-Zeitalter nach Maßgabe der Zerlegung und Neukomposition der Welt nach dem typografischen Prinzip.
Auch der Buchdruck lehrt es: Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Es genügt, des Lesens kundig zu sein, um sich in die gedruckten Worte zu vertiefen. Mitgeführt wird dabei das Wissen vom anderen, der dasselbe liest. An allen Orten, wo ein Buch der gleichen Auflage auftaucht, verkündet es den identischen Inhalt. Die mündliche Überlieferung büßt an Wert ein, sobald das Buch völlig neue Maßstäbe setzt. So verliert die Idee der Wahrheit unter dem typografischen Diktat ihren metaphysischen Nimbus und reorganisiert sich als faktengebundene Realität. Das naturwissenschaftliche Zeitalter beginnt mit einer Definition von Wahrheit, deren Wesen die Reproduzierbarkeit ist. So wie die Druckmatrize immer denselben Text ausgibt, gilt ein Experiment als Kern der neuen Wissenschaften nur dann als wahr, wenn es unabhängig von Ort, Zeit und Protagonisten exakt dasselbe Ergebnis (re)produziert.
Sucht man nach historischen Belegen für diese These, wird man schnell fündig. Bereits im ersten Jahrhundert nach Gutenberg beginnt das Projekt der Mathematisierung der Natur. Die fallenden Steine bekommen Indizes, die Kanonenkugeln fliegen durch den Buchstabenraum der gleichmäßigen Einheiten, und den Abläufen in der Natur werden Überschriften wie die des Fallgesetzes angeheftet. Der Buchdruck spannt eine völlig neue Wahrnehmungsfolie auf, vor deren Grundlage sich die westliche Welt in den Stand gesetzt sieht, Erfahrungen zu homogenisieren und zu rationalisieren. Die Idee der uneingeschränkten Macht über die Naturkräfte kann als Resultat dieses Prozesses gelesen werden. Dass sie sich letztlich als Hybris erweisen soll, steht auf einem anderen Blatt.
Die neue, naturwissenschaftlich geprägte Logik verfährt nach typografischer Vorlage: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer Naturwissenschaft und Technik will, muss sich auf und mit immer mehr Naturwissenschaft und Technik einrichten. Es gibt kein Zurück mehr, sobald die präzise Wiederholbarkeit der Zeichen der menschlichen Wahrnehmung der Welt den Takt schlägt. Nach Gutenberg bleibt keine Zeit mehr für Kontemplation: Jetzt wird die Welt vermessen, in immer kleinerem Maßstab. Maß aller Dinge ist in der beginnenden Neuzeit nicht mehr der Mensch, sondern die Typografie, die auch noch die entscheidende Technologie vorgibt, mit der die Resultate des großen Vermessungs- und Homogenisierungsvorgangs in Wohlstand verwandelt werden: das Fließband. Hier taucht das erste Werkzeug in der Geschichte auf, das dem Menschen nicht (nur) mehr dient, sondern das bedient werden will und so den forschen Takt der typografischen Einheiten in die Körper einsenkt.
Natürlich ist der erste Bestseller auf dem Markt der gedruckten Bücher die Bibel, aber bald schon wird auch der Stand der Technik auf Papier gebannt. Gutenbergs Erfindung kommt rechtzeitig in Italien an, um die kühnen Entwürfe der Renaissanceingenieure zwischen Buchdeckeln zu ordnen. Seit 1465 gibt es Druckereien in Rom, Venedig, Padua, Modena und Florenz. Die zwölfbändige Abhandlung De re militari des italienischen Schriftstellers Roberto Valturio ist das erste Sachbuch auf dem Markt. Ein Beleg dafür, wie eng die Erfolgsgeschichten von Buchdruck, Naturwissenschaft und Technik bereits von Anfang an verknüpft waren. Der technologisch-militärische Komplex hat die Botschaft des typografischen Mediums sofort verstanden.
So schlägt der Buchdruck den Takt für die Zerlegung der Dinge, auf dass sich zeige, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gutenbergs Erfindung fungiert geradezu als ein Mutationsfaktor in der Evolution des menschlichen Geistes, die der Kulturphilosoph Jean Gebser in mehreren Etappen ablaufen sieht. Demnach waren unsere Urahnen zuerst vom magischen Bewusstsein beseelt. Es entstand gemeinsam mit dem Faustkeil als erstem Werkzeug vor etwa 1,7 Millionen Jahren und begleitete die Distanzierung der Gattung Homo von der Natur. Die nächste Stufe, das mythische Bewusstsein, entwickelte sich, als die Menschen vor etwa 12 000 Jahren sesshaft wurden und den Ackerbau für sich entdeckten. In der mythischen Welt ging es um die Entwicklung des Zeitbewusstseins und die Gewinnung der Innenwelt als Erlebnisraum. Diese Form nun wird mit der Erfindung des Buchdrucks vom rationalen Bewusstsein abgelöst, und das selbstbewusste Ich entsteht als Subjekt, das sich seiner Außenwelt – messend und zerlegend – gegenüberstellt. Verbunden damit ist die Idee der Objektivität. Die Welt wird berechnet und geordnet, von den Planetensystemen über die Meere und Länder bis hin zum Gehirn, das bald schon als Organ des Bewusstseins – oder mit den trefflichen Worten des Physiologen du Bois-Reymond – als »Bureau der Seele« konzipiert wird. Der Umbruch zeigt sich im Abendland gut im Kampf zwischen der christlichen Kirche, die ihren Aufstieg noch dem mythischen Bewusstsein verdankt, und der Naturwissenschaft als Ikone des Rationalen. Galilei wird Opfer dieser Zeitenwende. Als Protagonist des Neuen, der die Natur Gesetzen zu unterwerfen lehrt, gerät er in die Hände des Alten und kann seine Haut vor der Inquisitionsbehörde nur retten, indem er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse widerruft.
Auch die rationale Bewusstseinsstufe der Menschheit wird abgelöst. Nach Gebser entsteht seit Mitte des 20. Jahrhunderts – er selbst starb 1973 – das integrale Bewusstsein. Es soll sich durch die Integration aller bisherigen Stufen auszeichnen. Die das Bewusstsein strukturierende Zeitwahrnehmung zeigt eingängig, inwiefern dem heutigen Menschen alle in der Evolution des Bewusstseins praktizierten Wahrnehmungsmodi zu Gebot stehen: So kann man in verschiedenen Arten des Flows ganz im Augenblick sein, wie unsere vom magischen Bewusstsein erfüllten Urahnen, oder nur von Event zu Event denken wie die Ackerbauern, die im mythischen Bewusstseinszustand auf die zyklische Rhythmik setzten. Mit der Uhr am Handgelenk und dem Kalender auf dem Tisch wird es möglich, ganz in den Modus des rationalen Bewusstseins zu zappen. Das integrale Bewusstsein schließlich wird sich all dieser verschiedenen Arten der Zeitlichkeit inne und kann sie abwechselnd oder sogar parallel praktizieren. Frei nach dem Insiderwitz: »Was kommt nach Techno? – Hm … Was? – Na, Dienstag!«
Im Flow des als magisch wahrgenommenen Rave läuft zumindest am Horizont das rationale Zeitbewusstsein in Form des Wochentags mit, an dem man wieder aus der Clubin die Alltagsrealität wechselt, während bei der wochentäglichen Fron mit Blick auf den nächsten Event die im mythischen Bewusstsein geformte Zyklik präsent ist.
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