Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung. Группа авторов

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Kirchen potentielle Auswirkungen des Unionsrechts schon sehr früh bedacht und bei der Rechtserzeugung auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen versucht. Gerade die vorliegend umstrittenen Regelungen in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/7835 und in Art. 17 AEUV gehen auf die Aktivitäten der beiden christlichen Kirchen zurück, die maßgeblich aus Deutschland angestoßen und betrieben wurden.36

      Für den EuGH waren und sind die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung und ihre Durchsetzung gegenüber den Mitgliedstaaten die entscheidenden Parameter. In der Literatur ist insoweit von einer „gelegentlich kühn vorwärtsweisenden weitsichtigen Rechtsprechung“ die Rede.37 Das Selbstverständnis der früheren EWG als Wirtschaftsgemeinschaft wirkt vielfach noch in der Rechtsprechung nach, auch wenn insbesondere mit dem Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts zahlreiche Rechtsfragen von grundsätzlicher rechtsstaatlicher Bedeutung verbunden sind.38 Hinzu kommt, dass das Unionsrecht immer als eine Querschnittsmaterie verstanden wurde, die Einfluss auf die unterschiedlichsten Teilgebiete des innerstaatlichen Rechts hat. Der EuGH hat dabei durchgängig keine Rücksicht auf vermeintlich nicht von den Unionskompetenzen erfasste Rechtsbereiche genommen und insbesondere die Grundfreiheiten flächendeckend durchgesetzt. In der Gesamtschau ist diese Rechtsprechung überzeugend.39 In ihr finden sich dementsprechend zahlreiche Beispiele, in denen nicht in die Zuständigkeit der Union fallende Bereiche von Auswirkungen der Grundfreiheiten oder anderen Regelungen des Unionsrechts erfasst sind. Ein frühes Beispiel betrifft das Verwaltungsprozessrecht.40 Besonders intensiv wurden die Auswirkungen des Diskriminierungsverbots auf den Zugang von Frauen zu Streitkräften diskutiert.41 Auch das Steuerrecht ist ein Beispiel.42 Im Ergebnis ist es sicher nicht falsch, wenn dem EuGH aufgrund dieser Tradition unterstellt wird, er zeige wenig Sensibilität für die Besonderheiten religionsrechtlicher Fragestellungen.43 Die Urteile zum Kopftuch am Arbeitsplatz lassen sich jedenfalls gut in diesem Sinne deuten.44

      Ein Weiteres kommt hinzu: Anders als der EGMR hat der EuGH nie eine eigene Dogmatik der Verschiedenheit und der Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Besonderheiten entwickelt. Bei aller Unübersichtlichkeit und allen Schwierigkeiten der Konturierung im Einzelfall liefert die vom EGMR verwendete Doktrin der margin of appreciation doch zumindest einen Anhaltspunkt für die Zurücknahme der euopäischen gerichtlichen Kontrolle. Beim EuGH lassen sich zwar verstreute Ansätze für eine ähnliche Form der Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Besonderheiten finden,45 eine entsprechende Dogmatik gibt es aber bislang nicht und der EuGH hat sich auch nicht darum bemüht, die vom EGMR gerade für religionsrechtliche Fragen angelegte Spur46 aufzunehmen und unionsrechtlich weiterzuverfolgen.47

      2.4 Zwischenfazit

      In einem kurzen Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Perspektiven der drei maßgeblichen Gerichte sehr unterschiedlich sind. Während der EGMR sich auf die Festlegung und Durchsetzung eines im gesamten Europa der 47 Europaratsstaaten akzeptablen Mindestmaßstabs beschränkt und dementsprechend einen beträchtlichen Ausgestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten im Rahmen der margin of appreciation akzeptiert, versteht sich der EuGH als Hüter der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung, zu der er insbesondere auch die Durchsetzung des Antidiskriminierungsrechts der Union rechnet. Dementsprechend ist die Kontrolldichte höher und die Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Besonderheiten geringer. Das Bundesverfassungsgericht wiederum judiziert auf der Basis gewachsener religionsrechtlicher Strukturen, zu denen in Deutschland eine religionsoffen verstandene Neutralität und die Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften gehören. Im konkreten Fall des kirchlichen Arbeitsrechts hat es aber in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 versäumt, die Begründung für diese religionsfreundliche Herangehensweise an die geänderten Bedingungen einer religiös pluraleren und (in nicht unerheblichen) Teilen auch säkulareren Gesellschaft anzupassen.

      3. Maßgebliche Weichenstellungen in der Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Egenberger (C-414/16) und IR (C-68/17) und ihre Auswirkung auf die deutsche Rechtslage

      Im Folgenden werden die maßgeblichen Weichenstellungen durch den EUGH beschrieben, kritisch gewürdigt und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage analysiert. Zum einen geht es um die Auslegung der Ausnahmeklausel in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78 (3.1), zum zweiten um den Umfang des gerichtlichen Rechtsschutzes (3.2) und zum dritten um die Bedeutung des sog. „Kirchenartikels“ in Art. 17 AEUV (3.3.).

      3.1 Auslegung von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78 (EG) und Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften

      3.1.1 Die Vorgaben des EuGH

      Ausgangspunkt für die Auslegung muss zunächst einmal der Wortlaut der Ausnahmeregelung sein. Wie nicht selten im Unionsrecht ist dieser umständlich und bei Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78 (EG) zudem auch sehr lang. Die Vorschrift lautet:

       „(2) Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund.

       Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten“.

      Entscheidend für den EuGH ist die im Zitat hervorgehobene Stelle. Der EuGH legt diese Vorgabe in Egenberger eng anhand des Wortlauts aus und verlangt, dass sich die im Ethos der Organisation begründete Anforderung entweder aus der „Art“ der Tätigkeit oder aus den „Umständen“ ihrer Ausübung ergeben muss.48 Diese Auslegung führt dazu, dass – anders als es die Erwägungsgründe nahelegen und auch die Formulierung von Art. 4 Abs. 2 RL mit dem Verweis auf die „bestehenden einzelstaatlichen Gepflogenheiten“ andeutet – das bestehende einschlägige Religionsrecht der Mitgliedstaaten nicht vollumfänglich von den Wirkungen der Richtlinie ausgenommen wird, sondern die Qualifikation über die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung als zusätzliches Erfordernis beachtet werden muss. Diese enge Auslegung anhand des Wortlauts ist sicherlich auch dann ohne Weiteres vertretbar, wenn der Europäische Gesetzgeber beim Erlass der Richtlinie eine umfassendere Ausnahme vor Augen gehabt haben sollte.49 In der praktischen Konsequenz bedeutet dies, dass die Notwendigkeit der Kirchenmitgliedschaft nicht mehr mit übergreifenden Konzepten wie dem der Dienstgemeinschaft begründet werden kann, sondern die Gerichte insoweit eine Überprüfung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls vornehmen müssen.50

      In Bezug auf die in UAbs. 2 von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie angesprochenen Loyalitätsobliegenheiten wird der in Egenberger entwickelte Ansatz übernommen. Maßgeblich hierfür sind eine systematische Interpretation beider Absätze und der Umstand, dass UAbs. 2 verlangt, dass die „Bestimmungen der Richtlinie im übrigen eingehalten sind“. In der Konsequenz bedeutet dies, dass auch die Loyalitätsanforderungen nur dann verlangt und durchgesetzt werden können, wenn dies nach der Art der konkreten Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausführung „eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts