Seit Mitte der achtziger Jahre ist der „Achtsamkeit“ in der westlichen Welt zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden. Diese hat sich in erster Linie auf verschiedene Dimensionen des Alltagslebens gerichtet, angefangen bei unserem persönlichen Leben bis hin zu den Erfahrungen von Kindern in der Schule und von Patienten in der Therapie. Das geschäftige Leben, das Menschen in einer technologiegesteuerten, die Aufmerksamkeit aufzehrenden Kultur führen, produziert häufig eine nahezu irrsinnige Aktivität, bei der Menschen mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen versuchen und ständig dabei sind, etwas zu tun, ohne Raum zu haben, um durchzuatmen und einfach zu sein. Die Anpassung an eine solche Lebensweise führt dazu, dass sich Jugendliche in vielen Fällen an ein hohes Maß reizgebundener Aufmerksamkeit gewöhnen und von einer Aktivität zur nächsten hecheln. Auf der anderen Seite haben sie nur wenig Zeit für Selbstreflektion* oder für die direkte zwischenmenschliche Beziehung von Angesicht zu Angesicht, die das Gehirn braucht, um sich angemessen zu entwickeln. In unserem hektischen Leben gibt es heutzutage nur wenige Möglichkeiten, um sich aufeinander einzustimmen.
Viele Menschen empfinden diesen „gesellschaftlichen Wirbelsturm“ als persönlich zutiefst unbefriedigend. Wir können uns anpassen, auf den Druck, etwas tun zu müssen, reagieren, doch häufig können wir uns in einer so frenetischen Welt nicht entfalten. Auf der persönlichen Ebene brennen Menschen in modernen Kulturen häufig darauf, eine neue Seinsweise zu erlernen, die ihnen helfen kann, aufzublühen. Die Achtsamkeit in ihrer allgemeinsten Form bietet einen Weg des Gewahrseins an, der der Beginn eines vitaleren Lebens sein kann: Wir werden auf uns selbst eingestimmt.
In einem Buchbeitrag führt Paul Grossman (im Druck) aus, dass „der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs ‚Achtsamkeit‘ häufig die Konnotation des Achtens, Aufpassens oder Eingedenkseins in einem eindeutig bewertenden Kontext hat: Ein Vater oder eine Mutter sagt zum Kind: ‚Achte auf dein Benehmen‘ oder ‚pass auf, was du sagst‘, was impliziert, darauf zu achten, dass man sich auf eine Weise verhält, wie sie von der Kultur vorgeschrieben wird. ‚Er achtete auf die schlechten Straßenbedingungen und fuhr deshalb langsam‘ – ‚Was ist denn der Mensch, dass du seiner gedenkst…?‘ (Psalmen, 8.5) – ‚Ich verspreche, auf deine Ermahnungen zu achten‘ – ‚Er achtete immer auf seine Verantwortung als Familienvater‘. All diese Formulierungen spiegeln wider, dass die Betonung des Begriffs ‚Achtsamkeit‘ darauf liegt, dass man einer Sache genaue Beachtung schenken sollte, um sich nicht mit den Folgen unachtsamen Verhaltens auseinander setzen zu müssen.“
Den Geist definieren
Eine nützliche und von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen befürwortete Definition des Geistes lautet: „ein Prozess, der den Fluss von Energie und Informationen regelt“.
Unser menschlicher Geist ist sowohl verkörpert, in dem Sinne, dass er einen Fluss von Energie und Informationen beinhaltet, der sich innerhalb des Körpers und des Gehirns vollzieht, als auch relational (beziehungsbezogen), womit jene Dimension des Geistes angesprochen wird, die sich auf den Fluss von Energie und Informationen zwischen Menschen bezieht – zum Beispiel diejenige vom Autor zu seinen Lesern. Jetzt im Augenblick formt dieser Fluss von mir zu Ihnen, während ich diese Worte an Sie schreibe und Sie sie lesen, unseren jeweiligen Geist, Ihren und meinen. Selbst während ich mir vorstelle, wer Sie sein könnten und wie Ihre Reaktion möglicherweise aussehen könnte, verändere ich den Energie- und Informationsfluss in meinem Gehirn und meinem Körper als Gesamtsystem. Und indem Sie diese Worte in sich aufnehmen, verkörpert Ihr Geist diesen Energie- und Informationsfluss ebenfalls.
Achtsam sein
Bei Achtsamkeit in ihrem allgemeinsten Sinne geht es darum, aus einem Leben, das sozusagen auf Automatik geschaltet war, aufzuwachen und für den Reiz des Neuen in unseren Alltagserfahrungen empfänglich zu werden. Durch das achtsame Gewahrsein dringt der Energie- und Informationsfluss, der unser Geist ist, in unsere bewusste Aufmerksamkeit ein, und wir können auf der einen Seite seinen Inhalt würdigen und auf der anderen lernen, seinen Fluss auf neue Weise zu regulieren. Wie wir sehen werden, beinhaltet achtsames Gewahrsein mehr als das einfache Gewahrsein: Es beinhaltet, sich gewisser Aspekte des Geistes selbst gewahr zu sein. Statt auf Automatik geschaltet und achtlos zu sein, hilft uns die Achtsamkeit, aufzuwachen. Indem wir über den Geist reflektieren, werden wir in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, und so werden Veränderungen möglich.
Die Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, hilft uns unmittelbar dabei, den Geist zu formen. Wenn wir eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit für unsere Hier-und-Jetzt-Erfahrungen und das Wesen unseres Geistes entwickeln, schaffen wir diese spezielle Form von Gewahrsein und Achtsamkeit, die das Thema dieses Buches ist.
Einige Vorteile
Studien haben gezeigt, dass spezifische Anwendungen des achtsamen Gewahrseins die Fähigkeit verbessern, Emotionen zu regulieren, emotionale Fehlfunktionen zu bekämpfen, Denkgewohnheiten zu verbessern und negative Denkweisen zu reduzieren.
Bei Untersuchungen, die die Praktiken des achtsamen Gewahrseins zum Gegenstand hatten, hat sich gezeigt, dass solche Praktiken das Funktionieren des Körpers entscheidend verbessern. Durch Achtsamkeit verbessern sich die Heilungschancen, die Immunabwehr und die Reaktionen auf Stress; darüber hinaus wird ein allgemeines Gefühl physischen Wohlbefindens erzielt (Davidson, Kabat-Zinn, Schumacher, Rosenkranz, Muller et al. 2003). Unsere Beziehungen zu anderen Menschen verbessern sich ebenfalls, weil sich die Fähigkeit, nonverbale emotionale Signale von anderen wahrzunehmen, genauso erhöht wie unsere Fähigkeit, das Innenleben unserer Mitmenschen wahrzunehmen (siehe Anhang III, Beziehungen und Achtsamkeit). Auf diese Weise lernen wir, an den Gefühlen anderer Menschen Anteil zu nehmen, sie nachzuempfinden und ihren Standpunkt zu verstehen.
Wir können sehen, wie die Kraft achtsamen Gewahrseins diese zahlreichen und unterschiedlichen positiven Veränderungen in unserem Leben bewirkt, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass diese Form des Gewahrseins aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbaren Einfluss auf die Aktivität und das Wachstum derjenigen Gehirnregionen ausübt, die für unsere Beziehungen, unser emotionales Leben und unsere physiologische Reaktion auf Stress verantwortlich sind.
Achtsamkeit beim Lernen und im Bildungswesen
Über solche persönlichen und gesundheitlichen Vorteile der Achtsamkeit hinaus hat Ellen Langer (1989, 1997, 2000) das Konzept des „achtsamen Lernens“ entwickelt – eine Herangehensweise, die das Lernen nachweislich effektiver, unterhaltsamer und anregender macht. Der Kern dieses Ansatzes besteht darin, Lernmaterial in Gestalt möglicher Konzepte anzubieten und nicht als Konvolut absoluter Wahrheiten. In dieser Situation muss der Lernende seinen „Geist offen halten“, mit anderen Worten, er muss Unvoreingenommenheit bewahren in Bezug auf die Zusammenhänge, in denen diese neuen Informationen nützlich sein könnten. Die aktive Einbeziehung des Lernenden in den Bildungs- und Erziehungsprozess wird auch dadurch erreicht, dass man Schüler oder Studenten die grundsätzliche Überlegung anstellen lässt, wie ihre eigene Einstellung die Richtung des Lernens bestimmen wird. Durch diese Form der Achtsamkeit nimmt der Lernende aktiv am Lernprozess teil. Langer geht davon aus, dass es beim Erlernen von Konzepten in der Möglichkeitsform darum geht, uns in einem gesunden Zustand der Unsicherheit zu belassen, der dazu führen wird, dass wir aktiv neue Dinge wahrnehmen.
Der Pädagoge Robert J. Sternberg hat die Achtsamkeit im Erziehungs- und Bildungswesen als etwas angesehen, das einem kognitiven Stil vergleichbar ist (2000). Forschungsarbeiten zum achtsamen Lernen (Langer 1989) deuten an, dass es auf der Offenheit für Neues ebenso beruht wie auf der Aufmerksamkeit für Unterschiede, auf der Sensibilität für unterschiedliche Kontexte, auf dem Bewusstsein multipler Perspektiven und auf der Orientierung an der Gegenwart. Diese Dimensionen von Achtsamkeit innerhalb eines pädagogischen Szenarios in Betracht zu ziehen könnte es Schülern ermöglichen, ihr Lernverhalten während ihrer ganzen, ein Leben lang andauernden Laufbahn als Lernende zu vertiefen und zu erweitern. Die Lehrer können Ausdrücke wie „vielleicht“, „es könnte sein“ oder „manchmal“ anstelle von „ist“ verwenden, um so einen gesunden Respekt vor Unsicherheit zu kultivieren. (Weiteres zur