Название | Was ist Gerechtigkeit? |
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Автор произведения | Hans Kelsen |
Жанр | Афоризмы и цитаты |
Серия | Reclams Universal-Bibliothek |
Издательство | Афоризмы и цитаты |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159610016 |
Ein anderes Beispiel: Der Führer einer Armee soll ernannt werden. Zwei Männer stehen im Wettbewerb; aber nur einer kann berufen werden. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass der für das Amt Geeignetere zu berufen ist. Aber wie, wenn beide gleich geeignet sind? Dann ist eine gerechte Lösung ausgeschlossen. Nehmen wir an, dass der eine darum für geeigneter gehalten wird, weil er eine gute Figur und ein schönes Gesicht hat und so den Eindruck einer starken Persönlichkeit macht, während der andere klein ist und ein unscheinbares Äußeres hat. Wenn der erste die Stelle bekommt, wird der andere die Entscheidung keineswegs als gerecht empfinden; er wird sagen, warum sehe ich nicht so gut aus wie der andere, warum hat die Natur meinen Körper so viel weniger anziehend gestaltet? Und in der Tat, wenn wir die Natur vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus beurteilen, müssen wir zugeben, dass die Natur nicht gerecht ist: sie macht den einen gesund und den anderen krank, den einen klug und den anderen dumm. Keine gesellschaftliche Ordnung kann die Ungerechtigkeit der Natur völlig ausgleichen.
3. Wenn Gerechtigkeit Glück ist, dann ist eine gerechte Gesellschaftsordnung unmöglich, solange Gerechtigkeit so viel wie individuelles Glück bedeutet. Aber eine gerechte Gesellschaftsordnung ist selbst unter der Voraussetzung unmöglich, dass sie zwar nicht das individuelle Glück aller, aber das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl herbeizuführen sucht. Das ist die berühmte Definition der Gerechtigkeit, die der englische Philosoph und Jurist Jeremy Bentham formuliert hat. Aber auch Benthams Formel ist nicht anwendbar, wenn unter Glück ein subjektiver Wert verstanden wird. Denn verschiedene Individuen haben höchst verschiedene Vorstellungen von dem, was ihr Glück ausmacht. Das Glück, das eine Gesellschaftsordnung zu garantieren vermag, kann nicht Glück in einem subjektiv-individuellen, sondern nur Glück in einem objektiv-kollektiven Sinne sein. Das heißt, unter Glück darf man nur die Befriedigung gewisser Bedürfnisse verstehen, die von der gesellschaftlichen Autorität, dem Gesetzgeber, als solche anerkannt sind, die der Befriedigung würdig sind, so wie etwa das Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung, Behausung u. dgl. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die Befriedigung gesellschaftlich anerkannter Bedürfnisse etwas von dem ursprünglichen Sinne des Wortes völlig Verschiedenes ist. Denn dieser Sinn ist dem innersten Wesen der Sache nach ein höchst subjektiver. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist so elementar, ist so tief verwurzelt im Herzen des Menschen, weil er nur der Ausdruck seines unzerstörbaren Wunsches nach dem eigenen, subjektiven Glück ist.
4. Die Idee des Glücks muss einen radikalen Bedeutungswandel erfahren, um eine soziale Kategorie, das Glück der Gerechtigkeit zu werden. Die Metamorphose, in der das individuelle und subjektive Glück zu der Befriedigung gesellschaftlich anerkannter Bedürfnisse wird, gleicht jener, der sich die Idee der Freiheit unterziehen muss, um ein gesellschaftliches Prinzip zu werden; und die Idee der Freiheit wird vielfach mit der der Gerechtigkeit identifiziert, so zwar, dass eine Gesellschaftsordnung als gerecht gilt, wenn sie die individuelle Freiheit garantiert. Da wirkliche Freiheit, d. h. Freiheit von jedem Zwang, von jeder Art Regierung, mit jeder Art von Gesellschaftsordnung unvereinbar ist, kann die Idee der Freiheit die negative Bedeutung eines Frei-Seins von Regierung nicht beibehalten. Der Begriff der Freiheit muss die Bedeutung einer besonderen Form der Regierung annehmen. Freiheit muss bedeuten: Regierung durch die Mehrheit, wenn nötig, gegen die Minderheit der regierten Subjekte. Die Freiheit der Anarchie verwandelt sich so zur Selbstbestimmung der Demokratie. Auf demselben Wege wandelt sich die Idee der Gerechtigkeit aus einem Prinzip, das das individuelle Glück aller garantiert, zu einer gesellschaftlichen Ordnung, die bestimmte Interessen schützt, jene nämlich, die von der Mehrheit der der Ordnung Unterworfenen als dieses Schutzes wert anerkannt werden.
5. Aber welche menschlichen Interessen haben diesen Wert und welches ist die Rangordnung dieser Werte? Das ist die Frage, welche sich erhebt, wenn sich Interessenkonflikte ergeben. Und nur wo solche Interessenkonflikte bestehen, wird Gerechtigkeit zum Problem. Wo es keine Interessenkonflikte gibt, da besteht kein Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Ein Interessenkonflikt aber liegt vor, wenn ein Interesse nur auf Kosten eines anderen befriedigt werden kann, oder, was auf dasselbe hinausläuft, wenn zwei Werte in Gegensatz treten, und es nicht möglich ist, beide zugleich zu verwirklichen, wenn der eine nur in dem Maß verwirklicht werden kann, als der andere vernachlässigt, wenn es unvermeidlich wird, die Verwirklichung des einen der des anderen vorzuziehen, zu entscheiden, welcher der beiden Werte der wichtigere, der höhere Wert, und schließlich, welches der höchste Wert ist. Das Problem der Werte ist vor allem und in erster Linie das Problem der Wertkonflikte. Und dieses Problem kann nicht mit den Mitteln rationaler Erkenntnis gelöst werden. Die Antwort auf die sich hier ergebenden Fragen ist stets ein Urteil, das in letzter Linie von emotionalen Faktoren bestimmt wird und daher einen höchst subjektiven Charakter hat. Das heißt, dass es gültig nur ist für das urteilende Subjekt, und in diesem Sinn relativ.
II.
6. Das eben Gesagte mögen einige Beispiele illustrieren. Einer bestimmten sittlichen Überzeugung zufolge ist das menschliche Leben, das Leben jedes einzelnen Individuums der höchste Wert. Folglich ist es, dieser Anschauung nach, absolut verboten, ein menschliches Wesen zu töten, auch nicht im Krieg und auch nicht in Vollstreckung der Todesstrafe. Dies ist bekanntlich die Anschauung der Kriegsdienstverweigerer und jener, die die Todesstrafe grundsätzlich ablehnen. Aber auch eine dieser entgegengesetzte, gleichfalls sittliche Überzeugung besteht, der zufolge der höchste Wert das Interesse und die Ehre der Nation ist. Daher ist jedermann sittlich verpflichtet, sein eigenes Leben zu opfern und andere als Feinde der Nation im Krieg zu töten, wenn das Interesse und die Ehre der Nation solches erfordert; und es erscheint gerechtfertigt, über schwere Verbrecher die Todesstrafe zu verhängen. Es ist schlechthin unmöglich, zwischen den beiden Werturteilen, die den sich widersprechenden Anschauungen zugrunde liegen, auf rational-wissenschaftlichem Wege zu entscheiden. Es ist, letzten Endes, unser Gefühl, unser Wille, nicht unser Verstand, das emotionale, nicht das rationale Element unseres Bewusstseins, das den Konflikt löst.
7. Ein anderes Beispiel: Ein Sklave oder ein Gefangener in einem Konzentrationslager, wo die Flucht unmöglich ist, steht vor der Frage, ob Selbstmord sittlich zulässig ist. Diese Frage ist immer wieder erörtert worden und hat insbesondere in der Ethik der Antike eine große Rolle gespielt. Die Antwort hängt von der Entscheidung ab, welcher der beiden Werte der höhere ist: Leben oder Freiheit. Wenn Leben der höhere Wert ist, dann ist Selbstmord nicht gerechtfertigt; wenn aber Freiheit der höhere Wert, wenn ein Leben ohne Freiheit wertlos ist, dann ist Selbstmord nicht nur erlaubt, sondern geboten. Es ist die Frage nach der Rangordnung der Werte Leben und Freiheit. Nur eine subjektive Antwort auf diese Frage ist möglich, eine Antwort, die nur für das urteilende Subjekt gültig ist; keine für jedermann gültige Feststellung, wie etwa die, dass Metalle sich durch Hitze ausdehnen. Das aber ist ein Urteil über die Wirklichkeit, kein Werturteil.
8. Nehmen wir an – ohne es selbst zu behaupten –, dass es