Название | Wolken über Spanien |
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Автор произведения | Kate O'Brien |
Жанр | Книги о Путешествиях |
Серия | Die kühne Reisende |
Издательство | Книги о Путешествиях |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783843806107 |
Sollte das Ziel der Wissenschaft tatsächlich in einem vernünftigen Überleben der Menschheit bestehen, wird sie gut daran tun, darauf hinzuarbeiten, allen Grundsätzen, die einer ausgewogenen internationalen Einheitlichkeit dienen, erbarmungslos zu folgen und die romantischen Unterscheidungen zu zertreten, durch die die Geschichte, oder unser Begriff davon, uns zu dem Schlachtfeld des zwanzigsten Jahrhunderts geführt hat. In der wiederhergestellten Welt sollte es besser keine Geschichte geben. Lasst sie ganz kahl beginnen, ohne ein Haar – ohne einen einzigen Zahn. Oh, wie eifrig die Wissenschaft versuchen wird, ihre neuen Gesundheitsregeln durchzusetzen. Soll sie nur! In der Zwischenzeit warten wir darauf, dass unsere alte, zerzauste, mangelhafte Welt in einem letzten Anfall explodiert. Und wir zählen unsere unseligen Segnungen – den Ramsch, den wir angehäuft und so besessen geliebt und zu vermehren gesucht haben. Tempel, Paläste, Kathedralen; Bibliotheken voller Unsinn; Bilder, um Tote zu feiern, seltsame Legenden, noch seltsamere individuelle Konzeptionen; Lieder, um Gott zu preisen, oder eine Idee, die wir besaßen und Liebe nannten; Gräber und Buntglasfenster; Symphonien, Sonette, flügellose Siegesgöttinnen – Krimskrams aus zweitausend blödsinnigen Jahren, in denen es der Individualismus nach einer Menge beachtlicher Aufregung schließlich fertig gebracht hat, sich an seiner langen Leine zu erhängen. Es wird hoffentlich nie wieder zweitausend so derangierte oder sinnlos ertragreiche Jahre geben.
Mit diesen paar Worten der Selbstherabsetzung – denn wir sind alle Teil unserer beklagenswerten und schuldigen christlichen Ära –, mit diesen paar Worten, mit denen wir die Fortschrittlichen besänftigen, die Vernünftigen beschwichtigen wollen, lassen wir die Jalousien wieder herunter und richten uns von Neuem in unserer alten Behaglichkeit ein. Lasst uns die persönliche Erinnerung preisen, die persönliche Liebe.
Behaglichkeit! Während ich schreibe, brennt Irún. Die Times brachte heute Morgen ein Foto von der kleinen Plaza mit den niedrigen Stühlen aus Eisen und den gestutzten Platanen – der alltägliche Ort jeder spanischen Stadt. Das Café an der Ecke ein Haufen zerborstener Steine. Ein paar Männer mit Gewehren stehen niedergeschlagen herum. Die Zeitungen von gestern zeigten uns Frauen an der Küste von Hendaye, die zusehen, wie ihre Häuser auf der anderen Seite der Flussmündung in Flammen aufgehen. Dieser Spanienkrieg, der mit dem uralten spanischen Willen geführt wird, den Tod mit zeremonieller Grausamkeit zu erleiden oder zu vollstrecken – dieser Krieg ist nur ein Geschwür in einer mit Geschwüren übersäten Welt. Aber die individuelle Fantasie – wie die ethnische auch – ist nichts als Selbstschutz, und obwohl niemand, der eine Spur von Vernunft besitzt, über den universellen Terror von Nationalismen, Diktaturen und rassistischer Feindseligkeit hinwegsehen kann, ganz zu schweigen von der absurden Politik der versiegelten Lippen, obwohl niemand bestreiten kann, dass eine Welt, die außerstande ist, Slums, Arbeitslosigkeit, Giftgas oder Minenexplosionen abzuschaffen, dass eine Welt, die sich in der Gewalt von Dürren, Überschwemmungen, Streiks, manipulierten Märkten, Geheimabkommen, privaten Monopolen und Rüstungswettrennen befindet, eine dem Bösen und dessen Konsequenzen preisgegebene Welt ist – trotzdem dringt all das nur dann wirklich durch unser schützendes Phlegma, zehrt es nur dann wirklich an unseren Nerven, wenn das, was wir persönlich erfahren haben, das, was uns selbst berührt hat, für eine Weile im Rampenlicht steht. Wir sind also für unsere Sünden gemacht, und weil wir so gemacht sind, sind unsere Sünden Berge an Unmenschlichkeit. Doch genau wie Mr. Salteena2 davon sprach, dass er kein Gentleman sei – daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Die persönliche Note, der sentimentale Individualismus, hat uns so weit gebracht, dass nur etwas Wesensfremdes und Schreckliches das Leben retten kann, indem wir, die wir leben, uns selber zerstören.
Während China Not leidet, es in Lancashire zu Hungermärschen kommt, Bildungsbehörden im Kindergarten Gasschutz-Übungen veranstalten und Mussolini den Faschistengruß nicht einmal Vierjähriger entgegennimmt, beklagen Touristinnen, die sich für den Winter nach Hampstead, Neuilly und Brooklyn zurückgezogen, die neue Regenschirme gekauft und ihre Koffer verstaut haben, mehr als jede andere Katastrophe den Brand von Irún. Beklagen ihn als einen traurigen Fall, der an ihre persönliche Erinnerung rührt.
Sie sahen Irún das erste Mal an einem verregneten Augustmorgen. Nie werden sie ihre Enttäuschung vergessen. Die Nacht im Liegewagen zweiter Klasse war die Hölle gewesen; es war ihnen nicht gelungen, von überlasteten, schlecht gelaunten Schaffnern einen Kaffee zu bekommen; in Bayonne hatte eine alte Frau sie beim Kauf von Birnen übers Ohr gehauen. Einmal auf der anderen Seite der Brücke, würden sie den Zug wechseln und es mit einer Schar von Zollbeamten aufnehmen müssen. Sie würden nass werden bis auf die Knochen. Sie konnten kein Wort Spanisch. Würde ihnen jemand den exakten Wechselkurs der Pesete nennen? Du lieber Himmel, hatte man je einen solchen Regen gesehen?
Offensichtlich gab es in Irún sonst nichts zu sehen – außer einem Mann in Schwarz, gleich hinter der Brücke. Er stand ganz ruhig auf der Straße, mit dem Rücken zum Zug. Ein solider, etwa fünfzigjähriger Mann von respektablem Äußeren, der seinen schwarzen Mantel wie ein Cape umgeworfen hatte. Er trug auch eine schwarze Baskenmütze. Den Zug nahm er offenbar nicht zur Kenntnis, das Wetter schien ihm egal zu sein.
An jenem Morgen sahen sie diesen immer gleichen Mann, denn wo und wie man auch nach Spanien hereinkommt, er ist das erste lebendige Wesen, das einem ins Auge fällt. Wenn das Linienschiff an einem warmen, schönen Abend in den Hafen von Coruña einläuft, steht er zwischen den Felsen auf einer Landzunge, den Mantel wie ein Cape um die Schultern, die Baskenmütze auf dem Kopf – nachdenklich und standhaft. Wenn man in den frühen Morgenstunden auf den Bahnsteig von Madrids Nordbahnhof hinaustritt, ist er schon da, haargenau der gleiche. Auch sieht man ihn immer am Südende der Bidasoa-Brücke.
In den Erinnerungen eines jeden Touristen steht er in vorderster Front, jener nüchterne, nachdenkliche Mann.
Aber zu Irún. Am Abend zuvor saßen die Touristinnen in einem Café in der Nähe des Quai d’Orsay, aufgeregt – und vielleicht ein bisschen zu geschwätzig. Spanien am Morgen, die spanische Grenze. Die Pyrenäen, die resoluten Basken, Fuenterrabia, »wo Karl der Große mit seiner ganzen Peerage fiel«3. Der Jakobsweg nach Compostela. Pamplona, wo Ignatius von Loyola sich seine schwere Wunde zuzog. Die Fasaneninsel, wo es zu der einen und anderen vergessenen Verhandlung zwischen der einen und anderen vergessenen Persönlichkeit kam.4 Die Fluchten der Bourbonen, hin und her. Wellingtons Siege über General Soult. Die Carlistenkriege. Das Pelota-Spiel. Der schreckliche Stierkampf. Oder sollten sie sich doch einfach einmal einen ansehen? Bis man So-und-So, der immer noch über die Franken nachsann, vor sich hinmurmeln hörte: Dieu! que le son du Cor est triste le soir, au fond des bois!5 Wodurch er den Rest der Gesellschaft verwirrte, was missmutig hochgezogene Brauen zur Folge hatte. Wollte So-und-So sich auf der Reise als echter Langweiler erweisen?
Sie wurden also nass bis auf die Knochen. Irún ist ein schlecht organisierter Bahnhof. Auf ihrem Weg zwischen Zug, Zollschuppen, Kantine und dem anderen Zug wurden sie wirklich furchtbar nass. Ebenso ihr Gepäckträger, ein stiller, friedfertiger Mann mit hellen, blauen Augen. Überhaupt kein spanischer Typ, bemerkten die Touristinnen. Sie verließen Irún mit Unbehagen und ohne auch nur einmal an die Peerage Karls des Großen gedacht zu haben. Wirklich ohne irgendeinen Eindruck – abgesehen vom Regen und dem stillen Gepäckträger.