„… viel wunderbarer als die Liebe von Frauen“
Davids Totenlied für Saul und Jonatan (2 Sam 1, 17 – 27)
(1. Jahrtausend v. Chr.)
Einführung
Das Alte Testament kennt nur zwei „echte“ Totenlieder; neben dem hier wiedergegebenen ist dies die Totenklage König Davids auf Abners Tod (2 Sam 3,33ff). Doch im übertragenen Sinn, für das Schicksal einer politischen Größe, wurde diese literarische Gattung von der prophetischen Tradition aufgegriffen. (vgl. Am 4,2; Jes 14,4 – 21; Ez 27; 28, 11 – 19; 32,2 – 16). Unmittelbar voran geht diesem Lied die Schilderung des Todes König Sauls und seiner Söhne im Kampf gegen die Philister – in zwei miteinander nicht zu vereinbarenden Versionen! Nach 1 Sam 31 stürzt sich Saul selbst in sein Schwert, nach 2 Sam 1 versetzt ihm ein Amalekiter den Gnadenstoß, der dann die Botschaft mitsamt Sauls Stirnreif dem David überbringt. Nachdem David den Überbringer der Nachricht töten ließ, stimmt er die Totenklage über den König und dessen Sohn Jonatan an. Wie so oft in der Bibel werden unterschiedliche Überlieferungen nicht harmonisiert, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit einfach nebeneinander stehen gelassen. Das gilt bereits für die unterschiedlichen, nicht miteinander zu vereinbarenden Schöpfungserzählungen!
Es ist nicht leicht, die Entstehungszeit des Textes zu bestimmen. Er steht im Kontext des sogenannten deuteronomistischen Geschichtswerkes. Martin Noth war der Erste, der feststellte, dass das fünfte Buch Mose (Deuteronomium) mit den darauffolgenden sechs biblischen „Geschichts“-Büchern (Josue, Richter, 1/2 Samuel, 1/2 Könige) eine literarische Einheit bildet. Ältere Überlieferungsstücke, eigenständige Textsammlungen etc. erfuhren eine Endredaktion durch eine Gruppe von Schriftgelehrten, für die das Deuteronomium und die von ihm geforderte Alleinverehrung Jahwes theologisch zentral waren. Sie deuteten die wechselvolle Geschichte als Konsequenz der Treue zu Jahwe oder des Abfalls von ihm. Diese theologische Interpretation bildet nun den Rahmen der einzelnen Erzählstücke. Innerhalb einer etwa fünfhundert Jahre währenden Redaktionsgeschichte hat sich also die Endgestalt jener biblischen Bücher entwickelt, deren älteste Texte in die frühmonarchische Zeit (Beginn des 1. vorchristlichen Jahrtausends) zurückreichen mögen.
Den historischen Kontext der Erzählung bilden einerseits die Bedrohung durch die Philister (die Bezeichnung „Palästina“ geht auf sie zurück) und andererseits die Auseinandersetzung um die Errichtung einer Monarchie. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts v. Chr. waren die Philister im Zuge einer größeren Völkerwanderung in der Region an die Mittelmeerküste abgedrängt worden. Ein weiteres Vordringen nach Süden verhinderte das ägyptische Pharaonenreich. Die Philister waren dem entstehenden Israel weit überlegen und stellten eine ernsthafte Bedrohung für es dar. Umgekehrt waren die erstarkenden Stämme Israels wohl für die Philister ein willkommener Puffer gegen Norden.
Die beiden Samuelbücher reflektieren zum großen Teil Israels Transformationsprozess von einem Stammesbund zu einer von einem König zentral regierten Nation. Während für zahlreiche Völker des alten Orients die Monarchie eine selbstverständliche Gegebenheit war, bedeutete sie für die israelischen Stämme einen radikalen Bruch der Sozialstruktur, auf deren Grundlage sich der Jahweglaube entwickelt hatte. Die Einführung der Monarchie war deshalb heftig umstritten, und beide Tendenzen haben in den deuteronomistischen Geschichtsbüchern deutliche Spuren hinterlassen. So ist etwa die einzige im Alten Testament enthaltene Fabel (die „Jotamfabel“ im Buch der Richter, 9. Kapitel) der scharfen Polemik gegen die Monarchie gewidmet – es ist wohl ein einzigartiges herrschaftskritisches Dokument des Altertums. Andererseits enden viele Schilderungen von Gräueltaten, Gewalt, Rechtsbeugung und Korruption mit dem tendenziösen Kommentar, dass es damals noch keinen König in Israel gegeben habe. Ausschlaggebend dafür, dass sich die Monarchie letztlich durchsetzen konnte, waren neben der äußeren militärischen Bedrohung sicher auch innergesellschaftliche Gründe.
Auch die Gestalt des David selbst bleibt höchst ambivalent. Seine spätere Idealisierung zum Modell des Monarchen schlechthin war kein Hindernis dafür, dass Überlieferungen erhalten blieben, die diesem Bild diametral widersprechen. Rückschlüsse auf komplizierte Machtstrukturen können oft nur aus kurzen Bemerkungen im überlieferten Text selbst gezogen werden. Das gilt eben auch für die direkte Nachfolge Sauls. Es darf darüber spekuliert werden, ob Davids Totenklage nicht auch die Funktion hatte, seinen Rechtsanspruch auf die Nachfolge zu unterstreichen. Eine kurze Bemerkung zu Beginn des 3. Kapitels im selben Buch deutet auf einen langen Kampf mit Sauls Dynastie hin. Und auch seine Rolle bei Sauls Tod selbst darf hinterfragt werden: Im 16. Kapitel, das die Flucht Davids aus Jerusalem vor der Rebellion seines Sohnes Abschalom schildert, wird David von Schimi aus der Sippe des Hauses Saul verflucht, mit Steinen beworfen, der „Blutschuld am Haus Sauls“ beschuldigt und des Mordes bezichtigt. Vor diesem Hintergrund darf die Aufrichtigkeit der Totenklage Davids und ihres starken Pathos des Verlustes und der liebenden Zuneigung bezweifelt werden.
Zu ergänzen bleibt noch, dass zu jener Zeit der Jahweglaube keine Jenseitshoffnung kannte. Eine irgendwie geartete Hoffnung auf ein individuelles Weiterleben nach dem Tod wird in anderen alttestamentlichen Texten (etwa den Psalmen) sogar ausdrücklich negiert. Erst nach dem babylonischen Exil bilden sich Vorstellungen einer leiblichen Auferstehung und eines Endgerichts heraus, wie sie in jüngeren alttestamentlichen Büchern (besonders deutlich in den beiden Makkabäerbüchern) dokumentiert sind. Und nicht alle Strömungen des Judentums haben diesen Auferstehungsglauben rezipiert.
Zu ergänzen bleibt ferner, dass das hier zitierte Lied seine relative Bekanntheit dem Vers 26, der Klage um Jonatan, verdankt. Dass David dessen Liebe mehr galt als Frauenliebe, kann wohl kaum anders als im Sinne einer homoerotischen Beziehung gedeutet werden.
Die literarische Gattung des Leichenliedes zeichnet sich durch ein bestimmtes metrisches Versmaß aus (Qinavers), das natürlich nur im hebräischen Original nachzuvollziehen ist. Ein anderes typisches Merkmal hebräischer Lyrik bleibt aber auch in der Übersetzung erkennbar: der sog. „Parallelismus membrorum“, das heißt die Wiederholung eines Gedankens in zwei aufeinanderfolgenden, etwa gleich langen Satzgliedern mittels einer variierenden Formulierung. Dieses poetische Stilmittel hebräischer Dichtkunst mag vielen aus den Psalmen vertraut sein.
Das Lied
2 Sam 1,17 – 27
Und David sang dieses Klagelied für Saul und dessen Sohn Jonatan; er sagte, man möge es den Söhnen Judas als Bogenlied beibringen; es steht im „Buch des Aufrechten“.
Erschlagen liegt dein Stolz auf deinen Hügeln, Israel.
Ach, gefallen sind die Helden.
Macht davon keine Meldung in Gat,
verkündet dies nicht auf den Straßen Aschkelons,
damit die Töchter der Philister sich nicht freuen,
damit der Unbeschnittenen Töchter nicht frohlocken.
Oh ihr Berge Gilboas, weder Tau noch Regen mögen auf euch fallen,
ihr trügerischen Gefilde.
Denn dort wurde der Helden Schild befleckt,
Sauls Schild, als wäre er nicht der Gesalbte.
Der Bogen Jonatans kehrte nie zurück ohne das Blut von Getöteten,
ohne das Mark von Helden.
Auch Sauls Schwert kam nie zurück ohne Erfolg.
Saul und Jonatan, geliebt und teuer, weder im Leben noch im Tod sind sie getrennt.
Schneller waren sie als der Adler, stärker als der Löwe.
Ihr Töchter Israels, weinen müsst ihr um Saul,
denn er hat euch gekleidet mit prächtigem Purpur und mit goldenem Schmuck eure Gewänder verziert.
Ach, gefallen sind die Helden mitten im Kampf.
Erschlagen liegt