Wir leben eindeutig im Instant-Zeitalter!
»Ich habe Ihnen vor 20 Minuten eine Mail geschickt und immer noch keine Antwort bekommen«, wiederholt mir ein Manager den Anruf eines aufgebrachten Kunden. Dieser hatte allen Ernstes erwartet, dass der Manager a) seine Mail innerhalb weniger Minuten liest und b) sich sofort an eine Antwort macht, ganz unabhängig davon, was er sonst zu tun hat. Spontan muss ich lachen über diese Erwartungshaltung. Aber das Lachen bleibt mir im Halse stecken. Denn sie ist nicht nur weit verbreitet, sondern normal geworden. Wenn Sie mit Ihrer Antwort zu lange warten, laufen Sie gleich Gefahr, als vermisst gemeldet zu werden. Auftraggeber suchen sich schon alternative Dienstleister und versenden gleich die nächste Anfrage. Seitdem Amazon die Maßstäbe setzt und sich mit der Same-Day-Delivery nun selbst übertrifft, leben wir eindeutig im Instant-Zeitalter (engl. instant = unmittelbar, sofort).
Die Geschwindigkeit hat sich in allen Bereichen erhöht, die Taktzahl steigt und steigt, und die Menschen haben in der Zwischenzeit verstanden, dass sie nur mithalten, wenn sie mitlaufen, wenn sie ihr Leben an diesen Geschwindigkeitsrausch anpassen. Wem der Nachrichtenstrom von Twitter bereits zu schnell ist, wird bei Snapchat völlig den Anschluss verlieren: Hier bleibt die Nachricht nur ein paar Sekunden lang lesbar. Danach löscht sie sich von selbst.
Heiß diskutiert werden in diesem Zusammenhang die veränderten Lesegewohnheiten. Seitdem alles schnell-schnell gehen muss, sehen auch Bücher aus wie Zusammenstellungen von Blogartikeln. Zeitungsartikel werden bald SMS-Form annehmen. Ich schreibe für Focus Online eine Kolumne. Aus den Gesprächen mit den Redakteuren weiß ich, dass alles gemessen wird: Besucherzahlen, Verweildauer, Klickraten. Texte sind ein Produkt, das zu messbarem Output führen muss. Was geklickt wird, wird an prominenter Stelle gezeigt. Wenn der Besucherstrom abreißt, verschwindet der Artikel im digitalen Nirwana. Was bedeutet das für den Verfasser? Der Text sollte bloß nicht zu lang werden, aber auch nicht zu tiefgründig sein und dennoch wertvollen Inhalt liefern. Die Kernbotschaften des Artikels sollten in Zwischenüberschriften zusammengefasst sein. So braucht der Leser nur diese zu scannen. Für Tiefgang hat er keine Zeit. Ich habe noch nie das Feedback bekommen: »Der Text ist zu kurz.« Eher zu lang. Und ich spreche von 3000 Zeichen.
Ähnlich ist es im Mailverkehr. Wenn Sie drei Themen zu behandeln haben, fassen Sie bloß nicht alles in einer E-Mail zusammen! Sprechen Sie jedes Thema in einer eigenen Mail an. Kurz und knackig auf den Punkt. Wenn Sie alles in eine einzige Mail packen, ist die Gefahr groß, dass Sie nur auf einen der drei Punkte eine Antwort bekommen. Der Rest bleibt unbeantwortet, weil ungelesen. Keine Zeit, keine Geduld.
Oder kennen Sie Folgendes? Während Sie telefonieren, hören Sie ein Tippgeräusch im Hintergrund: Ihr Telefonpartner tippt irgendetwas. Er möchte parallel zum Gespräch noch andere Dinge erledigen. Weil ja alles so eilig ist und der weitverbreitete Irrglauben herrscht, dass es die Fähigkeit zum Multitasking gäbe. Natürlich kann er nur noch einen kleinen Teil seiner Konzentration aufbringen für das, was Sie ihm erzählen. Ihr Gespräch ist für die Katz. Denn Ihr Gesprächspartner lässt Sie zwar ausreden, aber er hört Ihnen nicht zu.
Im Business führt der Instant-Virus noch zu einem besonderen Symptom. Laut Statistik kann eine Führungskraft durchschnittlich gerade einmal elf Minuten am Stück arbeiten, bevor sie unterbrochen wird. Aber das ist auch kein Wunder, denn sie fordert von ihren Mitarbeitern, dass alles am besten schon vorgestern fertig sein muss. Und so treiben die Chefs und die Mitarbeiter sich gegenseitig an, um all die parallel laufenden Dinge, die alle besprochen, abgewogen und eruiert werden müssen, möglichst fristgerecht zu erledigen. Der Drang, auf alles sofort eine Antwort zu bekommen, führt zu Dauerunterbrechungen. Selbst vom einfachen Mitarbeiter erwarten die Kollegen, die Kunden, die Dienstleister eine zügige Reaktion. Schließlich will jeder seine Arbeit schnell weiterführen.
Wie viel Tempo kann der Mensch im Leben verkraften?
George Orwell hat 1949 bereits geschrieben: »Wir beschließen, uns rascher zu verbrauchen. Wir steigern das Lebenstempo, bis die Menschen mit 30 senil sind.« Die Frage ist: Wie viel Tempo im Leben kann der Mensch verkraften?
Angesichts des zurzeit geforderten Tempos scheinen viele Menschen bereits Schwierigkeiten zu haben, sich überhaupt noch eine fundierte Meinung zu bilden. Stattdessen reagieren viele reflexhaft, um all die vielen Fragen, die auf sie einstürmen und beantwortet werden wollen, so schnell wie möglich vom Tisch zu haben. Wenn Sie aber keine Zeit haben, alle Argumente zu erfassen, um sich eine eigene Meinung zu bilden, dann verlieren Sie nach und nach das Gefühl, wofür Sie eigentlich stehen. Ihre Werte kommen nicht mehr zum Einsatz und werden vergessen. So einfach ist das. Damit sind Sie gewissermaßen in Ihrer Identität erschüttert. Sie wissen nicht mehr, wer Sie sind, weil Sie sich das selbst schon zu lange nicht mehr gefragt haben. Sie sind es nicht mehr gewohnt, Ihre innere Stimme wahrzunehmen. Wird diese Stimme nicht gehört, verstummt sie. Und mit ihr verstummen auch Sie!
Reden und reden und doch stumm wie ein Fisch im Aquarium.
Nicht dass Sie nichts mehr sagen würden: Aber Sie sagen nur noch das, was andere auch sagen. Oder was andere hören wollen. Oder wovon Sie meinen, dass andere es hören wollen. Oder nur noch das, worüber Sie nicht lange nachdenken müssen, weil Ihnen dazu die Zeit fehlt. Sie reden und reden und sind doch stumm wie ein Fisch im Aquarium, der nur noch von Glasscheibe zu Glasscheibe schwimmt. Um Sie herum ist jedoch alles so schnell in Bewegung und hält Ihre Aufmerksamkeit so gefangen, dass Sie gar nicht bemerken, wie Sie verstummen. Vielleicht macht sich nur ein merkwürdiges, dumpfes Gefühl breit. Oder der Gedanke »Irgendetwas fehlt in meinem Leben«.
Unterschätzen Sie nicht, was das für Ihr Leben bedeutet – die australische Autorin Bronnie Ware hat in ihrem sehr beeindruckenden Buch über Gespräche mit todkranken Menschen einen Punkt formuliert, den Sterbende am Ende ihres Lebens besonders bereuen: »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.«
Wenn Sie Ihr eigenes Leben aber nicht leben, vergessen Sie, dass Sie überhaupt so etwas wie eine Stimme haben. Eine innere Stimme, die Sie als Person ausmacht. Sie vergessen ebenso, dass Sie den Mut haben könnten, diese innere Stimme laut werden zu lassen und dem Ausdruck zu verleihen, was sie Ihnen sagt. Das Ergebnis ist ein sich selbst verstärkender Teufelskreis: Je seltener Sie Ihrer inneren Stimme Gehör verschaffen, desto weniger merken Sie, dass Sie eine haben. Und je öfter Sie vergessen, dass Sie eine haben, desto ratloser stehen Sie vor den einfachsten Entscheidungen. Sie werden von Ihrer Umwelt gelebt, anstatt dass Sie Ihre Umwelt aktiv gestalten. Sie fühlen sich halt- und orientierungslos. Der InputVirus hat sie zusammen mit dem Instant-Virus in eine Art Tornado geschleudert.
Dieser Tornado, das ist der ganz »normale« Alltag, in dem Sie den Fokus verlieren, sich vom Horizont ablenken lassen, auf den Sie in Ihrem Leben doch eigentlich zusteuern wollen. Stattdessen: Verantwortung für die Kinder, den Partner, das Haus und den Hund, Stress im Büro mit 128 Mails pro Tag, 56 Rückrufbitten, Kundenbeschwerden, Diskussionen mit Mitarbeitern, Meetings, To-dos, verpassten Deadlines. Und Hobbys, Rechnungen, Briefe, längst überfällige Einkäufe … Nach und nach verbringen Sie immer weniger Zeit mit den Veränderungen, die Sie wirklich nach vorne bringen sollten. Und zack! – schon sind drei Monate vergangen, ohne dass Sie sich endlich mehr bewegt, nach einem neuen Job recherchiert oder sich mehr Zeit für Ihren Partner genommen hätten.
Es scheint, als gäbe es kein Entrinnen vor diesem Tornado. Doch so ist es nicht!
Selbst schuld (I)
Als ich Gerd, einen befreundeten Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens, frage, ob wir uns Samstag auf eine Runde Fitness im Studio treffen wollen, höre ich am Telefon, dass er stutzt. Zwei, drei Sekunden sagt er gar nichts. Dann fragt er vorsichtig nach:
»Meinst du diesen Samstag?«
»Ja«, sage ich und schaue leicht irritiert in den Kalender. Gibt es ein wichtiges Ereignis, das ich übersehen habe? Gerds