Der Krimi an sich. Jerry Cotton

Читать онлайн.
Название Der Krimi an sich
Автор произведения Jerry Cotton
Жанр Документальная литература
Серия Kommissar Y
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788711668702



Скачать книгу

einen noch ungehobenen Schatz an Material, dessen Bearbeitung in Beleidigungskrimis eine reizvolle Aufgabe wäre. Ich komme darauf zurück

      Der französische Jurise François Gayot de Pitaval (1673-1743) veröffentlichte zwischen 1734 und 1743 eine zwanzigbändige Sammlung von »causes célèbres et intéressantes«. Friedrich Schiller gab eine vierbändige Auswahl der von Pitaval zusammengestellten Fälle heraus. Es kam zu Nachfolgeveröffentlichungen, so 1842-1890 »Der neue Pitaval« von Julius Eduard Hitzig und Willibald Alexis, so 1931 der »Prager Pitaval« von Egon Erwin Kisch und so 1963 ff. »Der neue Pitaval« von Herrmann Mostar und Robert Adolf Stemmle. Der letztere enthielt in vier Bänden Kriminalfälle aus den Bereichen Giftmord, Todesurteil, Raub und Betrug.

      Bekannte derartige Sammlungen von Kriminalfällen sind weiter etwa die 1808/11 veröffentlichten »Merkwürdigen Rechtsfälle« von Paul Johann Anselm von Feuerbach, dem Vater der modernen Strafrechtswissenschaft. 1858/62 veröffentlichte Avé Lallemant sein Werk »Das deutsche Gaunertum«. Und 1949 veröffentlichten Gustav Radbruch und Heinrich Gwinner ihr Werk »Geschichte des Verbrechens«; es war das letzte Werk, das Gustav Radbruch kurz vor seinem Tod veröffentlichte.

      Das waren die Vorläufer der heutigen Krimis.

      III. Spannung

      Ein Krimi muß spannend sein. Aber was heißt das? Die Begriffe »Spannung« und »spannend« werden in unserer Zeit geradezu inflationär verwendet. Wenn in einem Unternehmen ein neues »Projekt« gestartet wird, das die Verlagerung der Produktion des neuen Bullshit Pepulators in das Niedriglohnland Lummernesien vorsieht, sind alle beteiligten BWLer und Consultants geradezu verpflichtet, dies als eine »spannende« Aufgabe zu bezeichnen, sofern sie sicht nicht im Aktenkeller in dem garantiert spannungsfreien Archiv der Firma wiederfinden wollen. Dabei frage ich: Ist es wirklich »spannend«, in ein Land zu ziehen, wo Kinder als billige Arbeitskräfte mißbraucht werden und korrupte Verwaltungen einen Unternehmer vor Steuern und Umweltschutzauflagen bewahren?

      Der Begriff »Spannung« stammt aus Zeiten, in denen man Geschosse mit Geräten abfeuerte, die mit Muskelkraft bedient wurden. Schon in der Antike gab es Kanonen, die manuell gespannt wurden. Sie feuerten Steinkugeln ab, mit denen man massive Steinmauern zum Einsturz brachte. Im Mittelalter gab es Langbogen, die Pfeile bis zu einer Entfernung von 200 Metern mit einer solchen Wucht abschossen, daß eiserne Rüstungen von etwa 2,5 cm Dicke durchschlagen wurden. Zu sehen, ob das klappte, vor allem dann, wenn man als Mongole die Pfeile im vollen Galopp vom Pferedrücken aus verschoß und gepanzerte deutsche Ritter als Ziele dienten – das war fraglos »spannend«.

      Ein wenig abstrakter ausgedrückt bedeutet »Spannung«, daß ein Übel im Anmarsch ist und man wissen will, ob es eintrifft oder nicht. Das englische Wort dafür lautet »Suspense« (= »Gespanntheit«), welcher Begriff sich aus dem lateinischen »suspendere« (= aufhängen) ableitet und die Unsicherheit hinsichtlich eines künftigen Ereignisses bezeichnet. Trifft dann nicht das erwartete Ereignis, sondern etwas anderes ein, löst sich die Spannung auf. Alfred Hitchcock, der »Master of Suspense«, bezeichnete das als »Surprise Mystery«. Wenn Detektiv Knatterbumm unerlaubterweise, aber der Dramaturgie gehorchend (»Gefahr im Verzug«) in das Apartment des Serienmörders Hackmann eingedrungen ist und dort das Album mit den Fotos der von Haarmann gemeuchelten Opfer findet, so ist das mäßig interessant, aber noch nicht spannend. Die Sache ändert sich, wenn Mörder Hackmann unerwartet vorzeitig zurückkehrt und unten das Haus betritt. Assistent Harry, der für diesen Fall als Aufpasser im Auto vor dem Haus postiert wurde, und der Knatterbumm gegebenenfalls warnen soll, stellt fest, daß sein Handy im Auto keinen Netzempfang hat. Er springt aus dem Auto und fummelt verzweifelt an seinem Handy herum. Inzwischen ist Hackmann mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren und nähert sich seiner Wohnungstür. Kantterbumm, immer noch ahnungslos, betrachtet derweil kopfschüttelnd die Bildergalerie der Opfer des Massenmörders. Die Spannung steigt. Hackmann steht jetzt vor seiner Wohnungstür, sucht den Schlüssel in der Manteltasche – findet ihn nicht. Die Spannung steigt und steigt. Eine kleine Hoffnung keimt. Hat der Mörder den Schlüssel vielleicht vergessen? Nein, die Hoffnung trügt. Er findet den Schlüssel in der Hosentasche, steckt ihn ins Schloß. Es ist dies der Augenblick, in dem ein messbarer Prozentsatz der Zuschauer die Spannung nicht mehr erträgt und zum Sommerfest der Volksmusik umzappt, wo Marianne und Michael sich gerade gegenseitig vorsingen, wie lieb sie sich haben. Die Tapferen umklammern ihre Fernbedienung mit schweißnassen Händen und sehen, wie Knatterbumm aufmerkt, das Album zuklappt und blitzschnell zur Wohnungstür huscht, wo er sich in den Winkel stellt, den die aufgehende Tür mit der Wand bildet. Hier ist er nicht sofort zu sehen. Mörder Hackmann tritt ein, bleibt stehen. Als erfahrener Verbrecher spürt er, daß etwas nicht stimmt. Er zieht seine Pistole aus der Tasche, lädt sie durch (»spannt« sie), de Spannung steigt. Der Mörder geht einen Schritt vorwärts, die Spannung steigt weiter und ist kaum noch zu ertragen. Die Zuschauer winden sich und ringen ihre feuchten Hände. Hackmann vermutet das Unheil in seinem Wohnzimmer und wendet sich dorthin. Das ist Knatterbumms Chance. Lautlos drückt er sich an der Tür hinter Hackmanns Rücken entlang, erreicht unbemerkt den offenen Ausgang, nur ein Schritt fehlt noch und er ist in Sicherheit. Da klingelt sein Handy. Harry, der dusslige Assistent hat nämlich genau in dieser Sekunde ein Netz bekommen. Hackmann fährt herum ... An dieser Stelle pflegte man früher, als es noch die Fortsetzungsromane gab, zu schreiben: »Fortsetzung folgt.«

      Viele Krimiautoren meinen, es sei spannend, dem Leser im geschlossenen Raum eine Gruppe von Verdächtigen vorzuführen und die schon erwähnte »Who-dunit-Veranstaltung« aufzuführen. Da ist Onkel Eduard, der gesetzliche Ersatzerbe dritter Ordnung, der tief in Schulden steckt. Da ist Sofia, die Rachepläne schmiedet, seit der Ermordete sie vor dreißig Jahren verschmäht und statt ihrer die blonde Veronika geheiratet hat, die wiederum eine »Affäre« (ja, das Wort gibt es noch) mit Heinrich hat, der seinerseits, was Veronika nicht weiß, mit Sharon liiert ist, einer Ziehtochter des Mordopfers, die mit Hilfe des hochverdächtigen Agenten Krause bei der Hannoverschen Allgemeinen eine Lebensversicherung auf das Leben respektive den Tod des Opfers über eine Million Euro abgeschlossen hat, die aber nicht eingelöst wurde, weil die Sekretärin Tipper die Prämie veruntreut hat, was wiederum auf enttäuschte Liebe zu Onkel Eduard ... Ich breche ab. Nur einer ist nicht mehr dabei, weniger, weil er verbraucht ist, sondern mehr, weil er als Beruf heute nicht mehr existiert, nämlich der Gärtner. Den Garten pflegt heute die Casa Bianca Immobilien Service GmbH & CoKG unter Einsatz von ungelernter Billiglohnkräften aus Billiglohnländern, und dieser Servicebetrieb ist nicht nur steuersparend, sondern als Mörder gänzlich ungeeignet. Wie soll man jemanden verdächtigen, der nur Kiezdeutsch kann und einem sagt: »Ey, rockst du, lan, Alter Ischwör, war so.«

      Das Whodunit-Treiben ist nicht spannend. Es ist das, was man in der Branche »Mystery« nennt. So etwas war vielleicht früher spannend, als die Menschen noch Patiencen legten und sich in englischen Adelshäusern zum Dinner umzogen, ehe Inspektor Hercule Dreyfuß sie alle im Salon versammelte, ihnen nacheinander ihr Sündenregister erzählte, um zum Schluß der bislang völlig unverdächtigen Harriett, Studentin der Kunstgeschichte, die Tat auf den Kopf zuzusagen, weil sie infolge ihres Studiums als einzige wusste, wie man die Schrauben der Ritterrüstung lockern konnte, die von derem seit Jahrhunderten innegehabtenStandort im dritten Stock durch den offenen Treppenschacht just zu dem Zeitpunkt nach unten gestürzt war, als das Mordopfer dort seine Sammlung von Dunhill Pfeifen sortierte, was weder ihm noch den Pfeifen bekam. Auch das Tatmotiv kann der Inspektor liefern. Harriet hat nämlich über Jahre hinweg die zahlreichen Gemälde in der Schloßgalerie von Tizian, Rubens, Constable und anderen Kunstmalern gegen Fälschungen ausgetauscht, die John Cruft, ihr Kommilitone an der Kunstakademie und zugleich ihr skrupelloser Liebhaber, angefertigt hatte, um die Originale auf dem internationalen grauen Kunstmarkt an Scheichs und andere Geldbonzen zu verkaufen, denen es nichts ausmachte, geklaute Kunstwerke zu besitzen. Früher war so etwas vielleicht spannend. Heute ist es das nicht mehr.

      Der berühmteste Spannungskrimi ist mir noch genau im Gedächtnis geblieben, weil ich ihn als Kind gelesen habe und noch lange über den angeblichen Tod des Autors an der spannendsten Stelle empört war. Ich meine »Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym« von Edgar Allan Poe (1809-1849), dem Erfinder des amerikanischen Krimis.