Название | Ellenbogenfreiheit |
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Автор произведения | Daniel C. Dennett |
Жанр | Документальная литература |
Серия | eva taschenbuch |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935276 |
Ich beginne Ellenbogenfreiheit mit der Ermahnung „Bitte keine Schreckgespenster“ und hebe damit hervor, dass Philosophen dazu neigen, sich düstere Szenarien auszumalen, um ihre Positionen über den freien Willen zu „motivieren“: den gebieterischen Puppenspieler, den ruchlosen Neurochirurgen, das unglaublich schrumpfende Selbst und vieles andere. Die Panikmache ist zumeist ungerechtfertigt, was an den übersehenen Unterschieden zwischen unseren Umständen und den in jenen fürchterlichen Szenarien beschriebenen liegt. Meine Mahnung hat sicherlich ihr Ziel nicht erreicht. In den letzten Jahren sind neue Wellen von Neurochirurgen und Puppenspielern sowie verschwindenden Selbsten ersonnen worden, um die Argumente zu (miss)illustrieren. Vielleicht vermag diese Neuauflage von Ellenbogenfreiheit die Rolle einer Kontrollleuchte zu spielen. Sie kann den Werbern „neuer“ Perspektiven auf dieses Thema anzeigen, dass ihre Ideen nicht nur alte Hüte sind, sondern bereits widerlegte alte Hüte. Wie dem auch sei, ich bin gespannt, ob mein Buch neue Leser von seinen zentralen Schlussfolgerungen überzeugen kann, nun, da wir so viel mehr erhellendes Wissen über die darin diskutierten Themen angehäuft haben.
Literaturangaben
Dennett, D. (2010). „My Brain Made Me Do It: When Neuroscientists Think They Can Do Philosophy“, Max Weber Lecture Series, Europäisches Universitätsinstitut Florenz, unveröffentlichtes Manuskript.
Dennett, D. (2012). „Reflections on Free Will“, Free Press; seit Januar 2014 auch online unter: www.naturalism.org.
Taylor, C. und D. Dennett (2002). „Who’s Afraid of Determinism? Rethinking Causes and Possibilities“, in: The Oxford Handbook of Free Will, hrsg. von R. Kane, Oxford, S. 257-277.
Taylor, C. und D. Dennett (2010). „Who’s Still Afraid of Determinism? Rethinking Causes and Possibilities“, in: The Oxford Handbook of Free Will, hrsg. von R. Kane, 2. Aufl., Oxford, S. 221-241.
1 Meine jüngsten veröffentlichten Diskussionen des Themas finden sich alle auf meiner Internetseite: http://ase.tufts.edu/cogstud/dennett/recent.html. Siehe auch: Dennett 2010; „Erasmus: Manchmal liegt ein Spindoktor richtig“, in diesem Band; und meine Rezension des Buches „Free Will“ von Sam Harris aus dem Jahr 2012.
2 In diesem Band, S. 187.
3 Taylor und Dennett 2002 und 2010.
Erasmus: Manchmal liegt ein Spindoktor richtig*
Vor etwa 500 Jahren gab es eine bedeutsame Debatte zwischen Martin Luther und Desiderius Erasmus über Willensfreiheit. Luthers Text Assertio (Behauptung) von 1520 wurde erwidert von Erasmus’ Gespräch oder Unterredung über den freien Willen aus dem Jahre 1524, gefolgt wiederum von Luthers Vom unfreien Willen von 1525. Damals stand sie im Zentrum der intellektuellen Aufmerksamkeit in Europa, aber zu meiner Studienzeit gehörte sie nicht mehr zur Pflichtlektüre, und ich muss zugeben, im Laufe meiner Forschungen über den freien Willen habe ich sie nicht gelesen, bis vor kurzem, als ich eingeladen wurde, einen Aufsatz – diesen Aufsatz – über Erasmus zu schreiben. Für diese Einladung bin ich besonders dankbar, weil sie mir die Augen öffnete für einige unerwartete Parallelen zu einer Debatte zum selben Thema, in die ich zurzeit verwickelt bin und in der ich auf Erasmus’ Seite stehe, wenn auch unter ganz anderen Prämissen. Zu meiner Überraschung und Freude entdeckte ich, dass die Luther/Erasmus-Debatte, wenn ich sie mit einem halben Jahrtausend Abstand betrachte, meine Sicht auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen korrigiert und bereichert hat.
Luther argumentierte, wie Sie sich erinnern, lebhaft für die These, dass Menschen keinen freien Willen haben, ja gar nicht haben könnten, und dass sie daher auch keine Erlösung verdienten für irgendwelche guten Werke, die sie vollbracht haben, da alle ihre Taten letztlich durch Gottes Schöpfung bestimmt seien. Wir seien lediglich die Werkzeuge Gottes und sollten aus diesem Grunde für das, was wir tun, nicht gelobt oder belohnt werden. Erasmus beunruhigten diese Thesen zutiefst, die seiner Meinung nach menschliches Streben generell untergraben, so dass er kunstvoll eine Verteidigung der Willensfreiheit entwickelte, die sorgsam zwischen den verschiedenen durch die Heilige Schrift geschaffenen Hindernissen hindurchnavigierte, wobei er sich derjenigen Stellen in der Bibel bediente, die (nach seiner Interpretation) behaupteten oder darauf hinausliefen, dass wir einen freien Willen haben. Die Heilige Schrift war die einzige Autorität – abgesehen von der Vernunft selbst –, auf die sich Luther und Erasmus beriefen. (Die Wissenschaft war im Entstehen begriffen, aber noch lange nicht am Horizont sichtbar: Kopernikus machte astronomische Beobachtungen und sprach über seine Idee des Heliozentrismus, aber es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis er seinen revolutionären Traktat Über die Umschwünge der himmlischen Kreise veröffentlichte. Wie Stephen Greenblatt in seinem brillanten Essay im New Yorker1 zeigt, hatte die Wiederentdeckung des antiken, aber erstaunlich modernen protowissenschaftlichen Gedichtes Über die Natur der Dinge von Lukrez im Jahre 1417 den epikureischen Atomismus wiederaufleben lassen, samt den zufälligen Abweichungen der Atome (atomic swerve), die uns angeblich einen freien Willen zugestehen. Diese subversiven Ideen fanden in den folgenden Jahrhunderten immer mehr Verbreitung, wurden jedoch ebenso schnell von der Kirche verurteilt und unterdrückt und werden in der Debatte zwischen Erasmus und Luther, die sicherlich beide mit ihnen vertraut waren, mit keinem Wort gewürdigt.)
Heutzutage erklären einige prominente Neurowissenschaftler und Psychologen sowie ein paar freimütige Physiker und Biologen den freien Willen zu einer Illusion, ähnlich wie Luther, und ich gehöre zu ihren Gegnern. Die Wissenschaft ist unsere einzige Autorität – abgesehen von der Vernunft selbst –, und die Heilige Schrift besitzt für die in Frage stehenden Themen nicht mehr Relevanz als Homers Odyssee. Beide Debatten betreffen zwar exakt dieselbe Frage – die Realität des freien Willens –, doch der Kontrast auf der Ebene der Methoden zwischen damals und heute ist sehr stark. Luther und Erasmus schwingen ihre ausgewählten biblischen Passagen, aber keiner von beiden kommt je auf die Idee, zu argumentieren, dass einige dieser Passagen schlicht falsch sein könnten; immerhin handelt es sich um die Bibel, so dass alles in ihr Enthaltene einfach für wahr gehalten werden muss. Der einzige Ausweg besteht darin, alternative Deutungen für diejenigen Passagen zu finden, die der eigenen Position Probleme bereiten. Die Auslegung einer Sammlung von Stellen zu einem Thema mag uns heute als interessante Übung erscheinen, aber es fällt schwer, sie als eigenständige Suche nach der Wahrheit über dieses Thema ernst zu nehmen, verglichen etwa mit einer Metaanalyse einer Reihe von empirischen Studien zu einem Thema, die eventuelle Vorurteile oder andere Defizite in dieser Forschungsliteratur aufdecken kann. Die meisten der heutigen Argumente für oder wider die Willensfreiheit, die sich auf Experimente berufen, in denen die Gehirne von Versuchspersonen auf die eine oder andere Weise untersucht werden, oder auf Studien, die statistische Muster im menschlichen Verhalten analysieren, standen Erasmus und Luther einfach nicht zur Verfügung. Nichtsdestotrotz wimmelt es von taktischen und rhetorischen Gemeinsamkeiten in diesen beiden Debatten. Beispielsweise betrachte ich,