Название | Kritik der Ungleichheit |
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Автор произведения | Frederick Neuhouser |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Blaue Reihe |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783787338290 |
Das Doppelprojekt des Zweiten Diskurses mutet uns vielleicht weniger merkwürdig an, wenn wir darin eine Reaktion auf die klassische griechische Behandlung des Ursprungs und der Grundlagen sozialer Ungleichheiten sehen. Sowohl Platon als auch Aristoteles zum Beispiel werfen Varianten derselben zwei Fragen auf und beantworten sie mit der Behauptung, es gebe ein Fundament der menschlichen Ungleichheit in der Natur. Da die Natur Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten ausstatte – Unterschiede, die eine natürliche Rangfolge unter den Menschen bewirken–, komme sie als Quelle oder Ursprung der Ungleichheit in Frage. Diese natürliche Ungleichheit sei zudem die Grundlage der sozialen Ungleichheit. Sie erkläre, warum Ungleichheiten in der Welt herrschen, und ganz allgemein, wer welche Position besetzen solle. In dem Maße, wie sie natürliche Ungleichheiten spiegeln, sind faktische soziale Ungleichheiten gerechtfertigt – von der Natur autorisiert. Für Aristoteles gibt es ebenso Herren und Sklaven von Natur aus, wie es natürliche, Ungleichheit rechtfertigende Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren gibt. Platon unterscheidet drei Arten von Seelen, die den drei Metallen Gold, Silber und Bronze entsprechen. Solch natürliche Unterschiede rechtfertigen nach Ansicht von Aristoteles viele bestehende Ungleichheiten; in Platons Augen belegen sie die Unnatürlichkeit bestehender politischer Ordnungen und begründen die Notwendigkeit radikaler politischer Reformen, wenn die Gesellschaft so sein soll, wie Vernunft – und Natur – es fordern. Die Unterschiede als ›natürlich‹ zu bezeichnen, beinhaltet für beide, dass sie nicht Menschenwerk und daher unabänderlich sind; nichts Menschliches könnte oder sollte daran etwas ändern wollen.
Von einem modernen Blickwinkel aus ist es interessant, dass die Unterschiede, die für Platon und Aristoteles Ungleichheit rechtfertigen, von ihren Nutznießern nicht verdient sind. Sie spiegeln die natürlichen Vorzüge von Individuen und sind von ihren Besitzern nicht erworben worden. Viele zeitgenössische Philosophen – die sogenannten ›luck egalitarians‹ – verbeißen sich in die Vorstellung, dass Ungleichheiten nur dann zu rechtfertigen sind, wenn die Bessergestellten verdient haben, was sie besitzen, wobei unter ›verdienten Vorzügen‹ normalerweise solche verstanden werden, die von den eigenen (metaphysisch) freien Handlungen abhängen, und nicht davon, was der glückliche Zufall ihnen in den Schoß gelegt hat: etwa reiche Eltern oder gute Gene.8 (Rousseau teilt, wie wir sehen werden, diese Auffassung nicht.) Nicht weniger interessant ist der Umstand, dass sich gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich Macht, Autorität oder Ansehen für diese antiken Denker nicht notwendigerweise in gerechtfertigte Ungleichheiten bezüglich materieller Güter überführen lassen. Ganz offensichtlich ist das bei Platon, denn er schränkt das Streben nach Reichtum auf die unterste Klasse in der natürlichen Rangordnung der Seelen ein. Heute ist es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, die Vorteile, die mit mehr Macht oder höherem Ansehen einhergehen, ließen sich von großem Reichtum trennen, und Rousseau greift in einer Zeit zur Feder, wo sich dies auch für seine Welt zu bewahrheiten beginnt (DU, 183 f. / OC III, 189).
Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen der antiken und der neuzeitlichen Welt zählt, dass diese die Auffassung, man könne sich auf die Natur berufen, um soziale Ungleichheiten zu rechtfertigen, verwirft, eine Haltung, die normalerweise damit zusammenfällt, vom Standpunkt der Moral aus die fundamentale Gleichheit aller Menschen zu bekräftigen. Worin diese fundamentale Gleichheit freilich besteht und was sie für die Sozialphilosophie beinhaltet, das sind knifflige Fragen, auf die neuzeitliche Philosophen unterschiedliche Antworten bereithalten. Wie auch immer die Frage beantwortet wird, die fundamentale moralische Gleichheit aller Menschen zu behaupten wirft ein großes Problem auf, vor dem die Alten mit ihrer Antwort auf den Ursprung der Ungleichheit nicht gestanden haben: Wie ist soziale Ungleichheit, ein offenbar dauerhaftes Merkmal moderner Gesellschaften, zu rechtfertigen, wenn sie nicht darauf zurückzuführen ist, wie die Natur – oder Gott – die Welt eingerichtet hat, und es stattdessen die Prima-Facie-Annahme gibt, kein Individuum könne beanspruchen, von der Gesellschaft besser als ein anderes behandelt zu werden? Beinhaltet die Bejahung der moralischen Gleichheit aller Menschen, dass allein eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten zu rechtfertigen ist? Und wenn dem so ist, folgt dann daraus, dass moderne Gesellschaften hoffnungslos verdorben sind?
Es lohnt sich zu betrachten, wie der ›gesunde Menschenverstand‹ von heute diese Fragen zu beantworten geneigt ist. Fragt man ihn danach, was die Allgegenwart von Ungleichheit in menschlichen Gesellschaften erklärt, wird ›der Mann [oder die Frau] auf der Straße‹ vermutlich die eine oder andere Version der Behauptung anführen, Ungleichheit sei eine mehr oder weniger notwendige Folge der grundlegenden Bedürfnisse und Triebe, die das menschliche Verhalten überall und seit jeher motivieren, was in Verbindung mit gewissen gleichbleibenden Eigenschaften der conditio humana ›von Natur aus‹ dahin tendiert, eine große Bandbreite von Ungleichheiten hervorzubringen. Einige, die diese Auffassung vertreten, werden Ungleichheiten einfach einem angeborenen Konkurrenzdrang zuschreiben – einem Trieb, sich gegenüber anderen einen Vorteil zu verschaffen, einfach nur um sich selbst als überlegen zu erfahren und sich damit auch anderen um uns herum als überlegen zu betrachten. Nach dieser Ansicht ist Ungleichheit deshalb ein herausstechendes Merkmal menschlicher Gesellschaften, weil sich anderen als überlegen zu erweisen einen allgemeinen und grundlegenden Trieb der menschlichen Natur befriedigt, und damit würde diese Antwort als eine Version der Auffassung gelten, dass Ungleichheit – um Rousseaus Worte zu verwenden – ihren Ursprung in der Natur hat. (Selbstredend unterscheidet sich diese Berufung auf die Natur – auf den Konkurrenztrieb der menschlichen Natur – immer noch grundlegend von der antiken Auffassung.) Vielleicht würde man häufiger zur Antwort bekommen: Der Wunsch, Überlegenheit um ihrer selbst willen zu erreichen, sei zwar keineswegs selten,