Название | Die Todesstrafe I |
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Автор произведения | Jacques Derrida |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Passagen forum |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783709250389 |
Der Staat muss und will den Verurteilten sterben sehen.
Der Moment, in dem das zum Staat oder Nationalstaat gewordene Volk den Verurteilten sterben sieht, ist übrigens auch jener Moment, an dem es sich selbst am besten sieht. Es sieht sich [se voit] am besten, das heißt es nimmt seine absolute Souveränität zur Kenntnis und wird sich ihrer bewusst, und es wird gesehen [se voit], in dem Sinne, in dem il se voit im Französischen bedeuten kann, dass es sich sehen lässt, dass es sich zu sehen gibt.+ 5 Nie ist der Staat, oder das Volk, oder die Gemeinschaft, oder die Nation in ihrer staatlichen Gestalt, nie ist die Souveränität des Staates in ihrer begründenden Versammlung sichtbarer, als wenn sie sich zum Zuschauer und zum Voyeur der Vollstreckung eines Verdikts ohne Berufungsmöglichkeit und ohne Begnadigung, eben einer Exekution macht. Denn dieses Zeugnis – der Staat als Zeuge der Exekution und seiner selbst, seiner eigenen Souveränität, seiner eigenen Allmacht –, dieses Zeugnis muss visuell sein: augenscheinlich. Es geht also nie ohne eine Bühne und ohne Licht, das natürliche Tageslicht oder künstliches Licht. Im Laufe der Geschichte konnte es geschehen, dass das Licht des Feuers hinzukam. Nicht immer und nicht nur die Feuerstöße des von einem Erschießungskommando oder mit einer einzigen Kugel in den Nacken Füsilierten, sondern bisweilen auch das Feuer des Scheiterhaufens.
Wir haben noch nicht angefangen, noch hat nichts angefangen. Wir befinden uns noch im frühen Morgengrauen. In der Dämmerung, der Dämmerung von wer weiß wovon, von Leben oder Tod, Begnadigung oder Exekution, der Abschaffung oder dem Fortbestehen der Todesstrafe, beziehungsweise dem Begehen der Todesstrafe.6 Was auch immer wir im Laufe dieses Seminars denken oder sagen mögen, man muss, wir werden – indem wir uns mit dem Herzen und der Einbildungskraft, auch mit dem Körper, darauf beziehen – unablässig an die frühen Morgenstunden dessen denken müssen, was man eine Exekution nennt. An die/In der Morgendämmerung [À l’aube] des letzten Tages.
Es dämmert also erst. Es ist früh am Morgen, ganz früh am Morgen. Vor dem Ende, sogar noch bevor wir anfangen, vor den drei Schlägen [coups], sind die Akteure und die Örtlichkeiten bereit, sie warten auf uns, um anzufangen.
So wie wir im letzten Jahr Theater spielten, ohne zu spielen, wie wir so getan haben, als spielten wir In-Szene-setzen, so theatralisch, aber auch so wenig theatralisch wie möglich, vier Männer in Szene zu setzen, vier Staats- oder Kirchenmänner, Denker des Staates oder der Kirche oder beides zugleich (Hegel, Mandela, Tutu, Clinton: vier Protestanten der Moderne – keine Frau, kein Katholik, kein Orthodoxer, kein Jude und kein Moslem)7, nun, so werden wir dieses Jahr, noch bevor wir anfangen, und weil die Frage des Theaters unsere Aufmerksamkeit noch mehr und auf andere Weise wird fesseln müssen als in der bühnenlosen Szene der Vergebung (die Geschichte der Beziehungen zwischen der Todesstrafe und dem Schauspiel, der Inszenierung, dem wesentlichen Voyeurismus, der mit einer Tötung verbunden ist, die öffentlich, weil legal sein muss, diese Geschichte des Theaters der Todesstrafe würde ein Seminar für sich allein verdienen und wir werden ihr viel Interesse entgegenbringen, wenn wir es auch nie genügend tun werden), nun, dieses Jahr noch werde ich, bevor ich anfange, damit beginnen, einige Figuren, große Gestalten, große „characters“ aufzurufen, herbeizurufen oder zu neuem Leben zu erwecken, die uns unablässig begleiten werden – unabhängig davon, ob wir sie nun nennen und sehen oder nicht. Es werden immer noch vier sein, es gibt aber keine Protestanten mehr unter ihnen, sie werden immer noch vier sein, aber Männer und Frauen8, denn dieses Mal wird eine Frau kommen, um eine der sexuellen Differenzen in dieser Wahrheit der Todesstrafe in Erinnerung zu rufen. (Erinnern Sie sich an die Frage, die wir uns letztes Jahr stellten, oder die wir zitierten, ausgehend vom Südafrika Antjie Krogs, der Autorin von Country of My Skull, und der weiblichen Opfer, die vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission Zeugnis ablegen oder eben nicht ablegen können+: „Does truth have a gender?“, oder, wie der Titel eines Buchkapitels lautet: „Truth is a Woman“9.)
Wer werden also dieses Jahr diese – männlichen und/oder weiblichen – „Figuren“ sein? Zum Tode Verurteilte, natürlich, oder Begleiter, ein Chor großer zum Tode Verurteilter aus unserer Geschichte, aus der Geschichte des griechisch-abrahamitischen Abendlands, zum Tode Verurteilte, die durch die Szene, durch die Sichtbarkeit, durch die Zeit und die Dauer ihrer Tötung hindurch die im eigentlichen Sinne theologisch-politische Bedeutung dessen, was man die „Todesstrafe“ nennt, illustriert, ja begründet haben.
Jedes Mal, auf unterschiedliche Weisen, die zu untersuchen sein werden, wird der – mit einer klerikalen oder religiösen Macht verbundene – Staat diese Verurteilungen ausgesprochen und diese großen zum Tode Verurteilten (hier sind es, wie nochmals gesagt sei, vier) exekutiert haben, die da waren10 (ich werde sie einen nach dem anderen nennen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist), zunächst Sokrates, natürlich, der erste der vier. Sokrates, dem, Sie wissen es, aber wir werden noch darauf zurückkommen, dem also vor allem vorgeworfen wurde, die Jugend verdorben zu haben, indem er nicht an die Götter der Polis geglaubt und sie durch neue Götter ersetzt habe, so als ob er die Absicht gehabt hätte, eine andere Religion zu gründen und einen neuen Menschen zu denken. Lesen sie Die Apologie des Sokrates und den Kriton noch einmal, Sie werden dort sehen, dass eine im Wesentlichen religiöse Anklage von einer Staatsmacht übernommen wird, von einer Macht der polis, einer Politik, einer juridisch-politischen Instanz, was man mit einer schrecklichen Zweideutigkeit eine souveräne Macht als Exekutiv- beziehungsweise Exekutions-Macht [pouvoir exécutif] nennen kann. Die Apologie (24 b-c) sagt es ausdrücklich: Die kategoria, die gegen Sokrates vorgebrachte Anklage, lautet dahingehend, den Fehler begangen zu haben, schuldig geworden zu sein, die Ungerechtigkeit (adikein) begangen zu haben, die Jugend zu verderben und (oder um) aufgehört zu haben, die Götter (theous) des Gemeinwesens oder die vom Gemeinwesen verehrten Götter zu ehren (nomizein) – vor allem aber, an ihre Stelle nicht einfach neue Götter gesetzt zu haben, wie die Übersetzungen oft sagen, sondern neue daimonia11 (etera de daimonia kaina); und daimonia, das sind zweifellos Götter, Gottheiten, aber bisweilen, etwa bei Homer, auch untergeordnete Götter oder Wiedergänger, die Seelen der Toten; der Text unterscheidet genau zwischen den Göttern und den daimonia: Sokrates hat die Götter (theous) des Gemeinwesens nicht geehrt, und er hat neue daimonia eingeführt (etera de daimonia kaina). Die Anklage ist ihrem Gehalt nach also eine religiöse, eigentlich theologische, ja exegetische. Sokrates wird der Häresie beziehungsweise der Blasphemie, des Sakrilegs oder der Heterodoxie beschuldigt: Er täuscht sich hinsichtlich der Götter, er täuscht sich oder er täuscht die anderen, die Jungen vor allem, in Bezug auf die Götter; er ist hinsichtlich der Götter einem Missverständnis erlegen beziehungsweise hat hinsichtlich der Götter des Gemeinwesens Missachtung [mépris] und Missverständnis [méprise] erzeugt. Diese Beschuldigung, dieser Hauptanklagepunkt, diese kategoria religiösen Wesens wird – wie immer, und wir werden uns regelmäßig für diese immer wiederkehrende Verbindung interessieren – von einer Staatsmacht als Souverän übernommen, von einer Staatsmacht, deren Souveränität ihrerseits phantasmatisch-theologischen Wesens ist und sich, wie jede Souveränität, durch das Recht über Leben und Tod des Bürgers auszeichnet [se marque], durch die Macht, zu entscheiden, das Gesetz vorzugeben, zu urteilen und sowohl die Ordnung als auch den Verurteilten zu exekutieren. Selbst in den Nationalstaaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben – eine Abschaffung der Todesstrafe, die mitnichten einer Abschaffung des Rechts auf Töten gleichkommt, zum Beispiel im Krieg – nun, jene wenigen Nationalstaaten der demokratischen Moderne, die die Todesstrafe abgeschafft haben, behalten ein souveränes Recht über das Leben der Bürger, die sie in den Krieg schicken können, um zu töten oder getötet zu werden in einem Raum, der dem Raum der internen Legalität, des Zivilrechts, in dem die Todesstrafe ihrerseits aufrechterhalten oder abgeschafft sein kann, radikal fremd gegenübersteht.+
Um