Название | Der Meineid, vielleicht |
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Автор произведения | Jacques Derrida |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Passagen forum |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783709250303 |
1. A passage of an admirably graceful subtlety! The anacoluthon, or failure to follow a single syntactical track, for example in the shift from first to third person in the middle of a sentence, creates a narrative line that does not hang together. That shows, to anyone who notices it, that the story is – may be – a lie, a fiction. How could the same story apply at once to the teller and to someone else? The difficulty is in noticing the discrepancy, since memory, for Proust, far from being total and continuous, is intermittent and discontinuous. Our memories are out of our control. We remember only what our memories, acting on their own, happen to think it worthwile to save. Lying and fiction, as Albertine’s anacoluthons show, come to the same thing since both are forms of language that cannot be returned to a single paternal, patronizing logos or speaking source. […] Who is the liar here, Albertine as the example of the eternal feminine, evasive and unpossessable, in this case betraying Marcel in covert lesbian liaisons? Or is the prime liar Marcel Proust himself, who has displaced into a misogynist fiction his own experience of betrayal in a „real life“ homosexual liaison?6
2. Though we can notice that something has gone wrong with the narrative sequence, we can no longer remember the beginning well enough to see for certain the incoherence of the story and so perhaps discover the truth hidden behind the lie.
I say „perhaps“ because for Proust it is impossible ever to be sure whether or not someone is lying. This is because, contrary to what seems common sense, a lie is a performative, not a constative, form of language. Or, rather, it mixes inextricably constative and performative language.7
Abgesehen vom jüngsten „Fractal Proust“ beziehen sich Millers frühere Essays zu Proust nicht auf de Man und auch nicht explizit auf de Mans Proustlektüren. Aber es scheint mir in jedem Augenblick offensichtlich, dass diese Texte eine explication mit de Man verfolgen, im Sinne der *Auseinandersetzung. Zumindest implizit scheint es mir immer eine Debatte, eine aktive Lektüre, eine Interpretation und eine Diskussion von Paul de Mans Thesen zu sein: seiner Thesen über Proust und die Lektüre, gewiss, aber auch seiner Thesen über alles, was in der Frage der Lüge oder der Wahrheit ganz eminent ethisch ist, ethisch im Allgemeinen und ethisch im Sinne einer Ethik der Lektüre. Die Passage, die ich als Motto vorangestellt habe, entstammt einem Kapitel aus The Ethics of Reading, dem seinerseits ein langes Zitat aus Allegories of Reading vorangestellt ist. Man liest darin insbesondere provokante Aussagen wie diese :
The ethical category is imperative (i. e., a category rather than a value) to the extent that it is linguistic and not subjective. Morality is a version of the same language aporia that gave rise to such concepts as „man“, or „love“ or „self“, and not the cause or the consequence of such concepts. The passage to an ethical tonality does not result from a transcendental imperative but is the referential (and therefore unreliable) version of a linguistic confusion. Ethics (or, one should say, ethicity) is a discursive mode among others.8
Diese Aussagen halte ich nicht für indiskutabel, weder in meinen Augen noch in denen Millers. Ich rufe sie nur in Erinnerung, um die Konfiguration oder die Zusammenstellung zu rekonstituieren, in der ich mich anschicke, die eminent ethische Frage des Meineids (das heißt eine Art Lüge oder umgekehrt die Gattung, von der die Lüge eine spezielle Art ist) und des Buchs Le Parjure anzusprechen. Eine unauflösbar ethisch-literarische Frage der Zeugniserzählung und der Fiktion.
2. Zweiter reminder, eine Erinnerung. Gegen Ende der 70er-Jahre sagte mir Paul de Man in Yale eines Tages ungefähr dies (ich erinnere mich nicht, welcher Gedankengang diese Äußerungen herbeigeführt hatte, aber wir dürften, wie oft, von Paris gesprochen haben, vermutlich auch von Henri Thomas, einem Freund meiner Freundin Paule Thévenin): „Wenn Sie einen Teil meines Lebens kennenlernen wollen, lesen Sie ‚Hölderlin in Amerika‘. Henri Thomas, den ich nach dem Krieg hier in Amerika kennengelernt habe, hat diesen Text im Mercure de France veröffentlicht und er wurde dann in einem Roman wiederaufgenommen oder dazu erweitert, Le Parjure, bei Gallimard.“ Ich bekenne, dass ich mich nicht Hals über Kopf auf die Suche gemacht habe. Ich habe die Nummer des Mercure de France nie gefunden. Doch Jahre später stieß ich im Urlaub bei einem Antiquar in Nizza auf Le Parjure. Ich las es sehr schnell, sehr schnell jedoch begriff ich, dass die Hauptfigur der Fiktion, Stéphane Chalier, in einigen Zügen dem realen Paul de Man nicht fremd war und dass es sich, um es noch einmal allzu schnell zu sagen, um die Geschichte einer zweiten Ehe handelte, in den USA, obwohl es von einer ersten Ehe in Europa keine legale Scheidung gegeben hatte. Daher die Anklage auf Bigamie und Meineid. Der Zeuge-Gestalt-Erzähler-Romanschriftsteller erzählt die bewegende und bewegte Geschichte eines jungen belgisch-amerikanischen Paars: „Hölderlin in Amerika“, im Krankenhaus und fast blind, wird mit seiner jungen neuen Frau gerichtlich belangt oder ist von Strafverfolgung bedroht. Sowohl durch die erste Gattin als auch durch die amerikanischen Behörden. Nach meiner Lektüre habe ich, daran erinnere ich mich, an Paul de Man mit einem Wort, das so diskret wie möglich war und dem gewohnten Ton unseres Austauschs entsprach, geschrieben, dass es mich „erschüttert“ habe, „bouleversé“. Wir haben nie wieder davon gesprochen. Genauso wenig habe ich mit Henri Thomas darüber gesprochen, den ich damals noch nicht kannte und mit dem ich indes Jahre später, 1987, telefoniert habe (er lebte in der Bretagne), um sein Zeugnis über das zu hören, was Freunde (darunter Hillis Miller) und ich selbst gerade über die Vergangenheit des jungen belgischen Journalisten, der de Man während des Kriegs gewesen ist, entdeckt hatten und was wir, so hatten wir umgehend beschlossen, öffentlich und der Diskussion zugänglich machen wollten. Manche erinnern sich vielleicht noch an das, was ein paar Zeitungen, die nach dieser Art von Ware gieren, und ein paar seit langem von der Ohnmacht des Ressentiments vergiftete Universitätsleute eilig die „de Man-Affäre“ genannt hatten. Das war ihre Angelegenheit und ihre Affäre, ich komme hier nicht auf die heute im Überfluss „dokumentierte“ Episode zurück, über die ich für meinen Teil ausführlich und öffentlich gesagt habe, was ich davon halte [mon sentiment].9 Ich erinnere nur daran, dass Henri Thomas’ Zeugnis damals dasjenige eines vertrauensvollen und bewundernden Freundes war, ohne den geringsten Vorbehalt.10
3. Dritter reminder. Es trifft sich, dass ich im letzten Jahr in einem Seminar über Meineid und Vergebung, Le parjure et le pardon11, das Buch von Thomas aufmerksam und wie zum ersten Mal gelesen habe, um daran ein paar Schemata und Hypothesen auf die Probe zu stellen. Hillis Miller war in diesem Seminar anwesend. Er teilte also diese sonderbare Erfahrung, deren einzige oder zumindest privilegierte Zeugen wir in mehrfacher Hinsicht waren: der Versuch, um seine eigenen Worte wiederaufzunehmen, einer „response to the text that is both necessitated, in the sense that it is a response to an irresistible demand, and free, in the sense that I must take responsibility for my response and for further effects, ‚interpersonal‘, institutional, social, political, or historical, of my act of reading, for example as that act takes the form of teaching or of published commentary on a given text. What happens when I read must happen, but I must acknowledge it as my act of reading, though just what the ‚I‘ is or becomes in this transaction is another question“12.
Denn so zitternd und unentscheidbar sie auch blieb, so sehr auch heute noch die Referenz des Romans und der fiktionalen „Gestalt“ auf unseren Freund Paul de Man in der Schwebe bleibt, wir konnten nicht nicht von der Erinnerung, die wir von ihm bewahren, heimgesucht werden. Wir konnten uns nicht nicht in gewisser Weise innerlich von ihm, von der gespenstischen Wachsamkeit seines Blicks beobachtet wissen, selbst wenn diese Quasi-„Präsenz“ unsere Freiheit in nichts entschärfte. In Wahrheit verschärfte