Название | Ich war begeistert |
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Автор произведения | Stefan Großmann |
Жанр | Философия |
Серия | Wiener Literaturen |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783903005839 |
»Also, sagen S’, Herr Angeklagter«, fing der Baron Benz in liebenswürdigstem Ton an, »nehmen S’ den Fall, die Sozialdemokraten haben den Zukunftsstaat durchgesetzt, sind Sie dann zufrieden?«
Unser Schuster überlegte: »Bitte nein, Herr Landesgerichtsrat.«
»Also, was wollen S’ denn dann noch?«
Unser böhmischer Schuster überlegte wieder, dann schoß er los: »Bitte, Herr Landesgerichtsrat, wieder andere Gesellschaftsordnung.«
Das Gelächter im Saal war dümmer als die Antwort dieses einfachen Schusters, der mit jener primitiven Formel das Wesen des ewig ringenden, nie ausruhenden Geistes ausdrückte, der immer strebend sich bemüht.
Ich führte meinen Kampf gegen die gemäßigte Richtung mit halber Seele. Meine heroische Zeit war eigentlich vorüber. Damals bin ich das erstemal dem Führer der Sozialisten, Viktor Adler, gegenübergestanden. Es war in einer Versammlung im Drehersaal vor dreitausend Leuten. Adler war gefürchtet wegen seines erbarmungslosen Witzes. Von meinen Gesinnungsgenossen wurde ich zum Gegenredner bestimmt. Aber bevor ich auf die Tribüne trat, erklärte ich, daß ich den Saal sofort verlassen werde, wenn Adler irgendeines der aufgetauchten Probleme mit einem Witz abzutun versuche. Das war ebenso ehrlich wie schlau. Ich bin in meinem Leben nicht eigentlich witzig gewesen. Der einzige Witz, über den ich dann und wann verfügt habe, war richtiger esprit d’escalier, nämlich jener Witz, der einem zu spät erst auf der Treppe beim Hinunterkommen einfällt.
Aber immer ist ein Zwanzigjähriger gegen einen Fünfunddreißigjährigen in puncto Heiterkeit im Nachteil. Wer mit zwanzig Jahren Witze machen kann, der verdient sie nicht mit vierzig. Ein junger Mensch ist zu heiligem Ernst verpflichtet. Merkwürdigerweise oder vielmehr gar nicht merkwürdigerweise, denn Adler war trotz seines Sarkasmus immer ein ritterlicher Gegner, ging er auf meine Bedingung sofort ein, und so wurde die Versammlung durch meine Jugendhumorlosigkeit vor jedem erlösenden Gelächter bewahrt. Immerhin, ich hatte Viktor Adler in sein bedeutendes Gesicht gesehen. Dieses Antlitz war von Erfahrung durchfurcht, von Energie durchzuckt, von der weisen Einsicht eines diagnostizierenden Auges milde erhellt. Schon in dieser ersten Stunde, in der Adler mit seinem jugendlichen Gegenredner merkwürdig sanft verfuhr, knüpften sich zarte Sympathiefaden zwischen uns. Er hatte mich gewonnen, und ich hoffte, ich ihn.
Annie
Damals hatte ich auch eine schicksalsschwere Entscheidung zu fällen. Das Stammcaféhaus war zu wählen, in dem ich mich mit einigen jungen Freunden niederlassen sollte. Man hat über das Caféhausunwesen der Wiener oft die Nase gerümpft und es bespöttelt. Dem Fremden, der es nur in der Nachkriegszeit kennengelernt hat, wo fette, aufgedonnerte Weiber sich in den Fensternischen der Ringstraße breitmachten, mag der Geschmack am Wiener Caféhaus schnell vergangen sein. Aber bis zum Kriege hat das Wiener Café nicht nur seine Berechtigung, sondern auch seine Kultur gehabt. Das Wiener Caféhaus war eine Art von Klub, scheinbar ein Klub mit offener Tür, in Wirklichkeit meistens eine geschlossene Gesellschaft, die es verstand, Eindringlinge, die nicht hingehörten, vom Marmortisch und aus dem Lokal herauszuspötteln. Es gab Cafés für die verschiedenen Lager und Branchen, Arbeiter-Cafés in den Vorstädten, Kaufmann-Cafés in den Geschäftsvierteln, Künstler-Cafés um die Akademie und Sezession herum, Politiker-Cafés beim Reichsratsgebäude, Mediziner-Cafés in der Umgebung des Allgemeinen Krankenhauses.
Wir jungen Leute wählten keck das Café Griensteidl. Es lag auf dem Michaeler Platz, direkt gegenüber der Hofburg. Es hatte noch den entzückenden Charakter des Altwiener Cafés, es war ganz ohne Pomp, ohne Marmor, ohne Plüsch; sein einziger Schmuck bestand in großen, goldgerahmten Spiegeln. Von den vorderen Räumen, in die sich immerhin noch Zufallsgäste verlieren konnten, mußte man durch einen kleinen Biedermeierbogen schlüpfen, wenn man in die geheiligteren hinteren Zimmer gelangen wollte. Da das Café an der Ecke der Herrengasse lag, so gab es an zwei Fronten Fensternischen. In jeder dieser Nischen und an allen Tischen der geheiligten hinteren Räume saß ein sozusagen geschlossener Stammtisch. Das Café Griensteidl war gegen Ende der neunziger Jahre ein geistiges Zentrum der Stadt; in diesem Lager war Österreich, nämlich das junge, das bewußt oder unbewußt an eine Renaissance des auseinanderfallenden Staates dachte. In den geheiligten hinteren Räumen residierten die Politiker. Hier wandelte der bärtige Historiker des sechsundsechziger Krieges, Heinrich Friedjung, monologisierend auf und ab, hier hatte Viktor Adler mit seinem alten Freunde Engelbert Pernerstorfer, der langsam von den Deutschnationalen zu den Sozialisten hinüberrutschte, seinen Spieltisch; der Dritte im Bunde war ein hellblonder Bankdirektor, Otto Wittelshöfer, ein in der Finanzwelt hoch geachteter Mann, den der Nimbus des »geheimen Genossen« umstrahlte. In einem anderen verrauchten Zimmer tagten oder nachteten die Großen des Burgtheaters, das ja nur ein paar Schritte weit entfernt lag. Unser Tisch konnte natürlich nicht in den allerheiligsten Hinterräumen aufgeschlagen werden. Der Zahlkellner Heinrich, der wohlwollende Regisseur des Cafés, hatte uns eine Fensternische in der Herrengasse zuerkannt. Die Geistigkeit des Cafés Griensteidl kam darin zum Ausdruck, daß nicht nur eine Unzahl von in- und ausländischen Tageszeitungen auflag, sondern daß auch sämtliche literarische Wochen- und Monatsschriften von Tisch zu Tisch wanderten. Im Café Griensteidl anerkannt werden, das hieß den Grundstock zum großen Ruhm legen. Aber wie schnuppe war uns jungen Leuten Ruhm oder nicht Ruhm. Damals erschien in einer Münchener Monatsschrift Die Gesellschaft der erste Aufsatz des kleinen Karl Kraus, der auch im Griensteidl geboren wurde. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem er mit mir zusammen das Griensteidl verließ, seinen Arm unter meinen schob und ganz ernsthaft an mich die Frage richtete: »Was würdest du dafür geben, wenn du so berühmt wärst wie ich?« Ich wollte ihm nicht direkt ins Gesicht lachen, aber wenn ich später fast allwöchentlich die pathologischen Eitelkeitsexzesse dieses tragischen Zwerges lesen mußte, dann fiel mir dieses erste aufschlußgebende Erlebnis immer wieder ein.
Im Café Griensteidl habe ich den ersten etwas einseitigen Liebesroman meines Lebens zu spinnen begonnen. Zwischen halb elf und elf Uhr abends trat hier eine junge Dame mit ihrer kleinen Clique ein, die in dem ersten Raum hinter dem großen runden Eintrittszimmer sich niederzulassen pflegte. Es war ein junges Mädchen von wunderbarem, milchweißem Teint, hellbraunen, großbewimperten Augen und einer ungewöhnlich schönen Stirn. Eine reizende Fröhlichkeit ging von diesem jungen Mädchen aus, und an vielen Abenden sah ich ihr aus meiner Nische zu, immer entzückter von ihrem kollernden Lachen, bezaubert von den schwer bewimperten Augen, von den weißen Zähnen, die bei ihrem ungenierten Geplauder immer wieder fröhlich zum Vorschein kamen. Von den jungen Leuten, die um sie herum waren, schien keiner sich ihrer besonderen Gunst zu erfreuen. Dann und wann kam eine blonde Freundin mit, aber sie war nur eine stille Hintergrundserscheinung. Die heitere Königin des Tisches war Annie R. Ich hatte durch vorsichtiges Fragen ihren Namen herausbekommen und erfahren, daß es sich um ein junges Mädchen handelte, das im Begriff war, zur Bühne zu gehen. Viele Abende hat es mich beglückt, in meiner Nische zu sitzen und nur sehr vorsichtig, ohne daß ich bemerkt wurde und ohne daß ich gestört hätte, einen schnellen Blick zu Annie R. hinüberzuwerfen. Der Eindruck des strahlenden frohen Mädchens war so stark, daß ich mich an meinen Beobachterplatz in der Nische gewöhnte, und wenn ich einen Abend irgendwo in der Vorstadt oder im Prater verbracht hatte, so scheute ich um Mitternacht den weiten Weg zum Michaeler Platz nicht, um vor dem Schlafengehen wenigstens zehn Minuten lang, hinter einem großen Zeitungsblatt geborgen, einige Blicke an ihren Tisch zu werfen. Kam sie an einem Abend nicht, so fehlte sie mir. An Schlafverschwendung gewöhnt, konnte ich hier bis um zwei Uhr nachts wartend ausharren. Als sie einmal zwei Tage nicht erschien, verfolgte mich der Gedanke, daß sie aus meinem Gesichtskreis verschwunden sein sollte, so sehr, daß ich an meinem Bürotisch vormittags einen Brief konzipierte, den ich an Annie R., Café Griensteidl, am Büfett abzugeben, adressierte. Es war damals Sitte, daß man sich einen Teil seiner Korrespondenz ins Café kommen ließ; in dem Glaskasten, der neben dem Büfett hing, waren immer