Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas Suchanek

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Название Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik
Автор произведения Andreas Suchanek
Жанр Книги для детей: прочее
Серия Das Erbe der Macht
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783958343696



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konnte es vorkommen, dass hier und da eine Kleinigkeit transformierte. Ungewollt. Andere Wechselbälger hatten in der Vergangenheit bereits aufgrund kleinerer Fehler sterben müssen. Doch nein, die Hülle saß fehlerlos, kopierte perfekt das Original, das blutend und wimmernd seit Wochen in einem dunklen Kerker lag.

      Es ist soweit.

      Er musste seine eigenen Gedanken zu einem winzigen Punkt des Geistes werden lassen. Diesen Zauber konnten nur die besten Wechselbälger ausführen. Er unterdrückte das Ich, die Persönlichkeit, und erschuf an dessen Stelle eine Kopie des Originals. In diesem Zustand war sich der jeweilige Gestaltwandler nicht länger seiner eigenen Identität bewusst. Er fühlte, dachte und handelte, wie es die echte Version tun würde.

      Dafür reichte Können allein kaum aus. Es wurde Blut von der Blaupause benötigt, dem Menschen, der kopiert wurde. Da dieser noch am Leben war, konnte der Wechselbalg sich jederzeit bedienen.

      Tief unter ihm brach ein Tumult aus, die erste falsche Verdächtigung war ausgesprochen worden. Das Chaos begann. Er lachte. Seine Gedanken zerfaserten, sein Ich verschwand.

      Ein Lichtkämpfer stand auf der Balustrade, schaute bedrückt nach unten und hoffte darauf, dass der Verräter bald gefunden wurde.

      Sie stieß eine der Wachen beiseite, die zu beiden Flanken des Eingangs aufgestellt worden waren. Einer wollte auffahren, ließ es jedoch bleiben, als er sie erkannte.

      Guter Junge.

      Chloe rannte zu dem Krankenbett, auf dem Clara lag. »Was ist passiert?«

      Schwester Theresa bedeutete ihr zu schweigen. Sie legte soeben einen Stein auf Claras Stirn. Sofort erschlaffte der verkrampfte Leib der Freundin. »Ein Schock. Der Tod von Gryff Hunter hat sie aus der Bahn geworfen. Ordnungsmagier fanden sie in der Eingangshalle. Sie sprach immer wieder von einem Verräter, der gefunden werden muss.«

      »Aber sonst geht es ihr gut?«

      »Nun, es ist ein schwerer Schock.« Theresa warf ihr einen jener Muss-ich-das-extra-betonen-Blicke zu, die gehörig an Chloes Selbstbewusstsein kratzten. »Darüber hinaus ist sie jedoch unverletzt.«

      Chloe atmete auf. Dankbar lächelte sie der Heilmagierin zu, die es kurz erwiderte. Die Schwester war in ihrem normalen Leben Teil eines Ordens gewesen, bevor ein Sigil sie erwählt hatte. Daraufhin verrichtete sie hier im Castillo ihre Arbeit als Heilerin. Sie wurde respektiert, aufgrund ihrer resoluten Art aber auch gefürchtet. Sie trug ein einfarbiges gestärktes Kleid, darüber eine Bluse. Chloe schätzte sie auf etwa fünfzig, wagte jedoch nicht, danach zu fragen.

      »Sie wird nun schlafen«, erklärte Theresa.

      In der Ferne erklang erneut ein Tumult. Die Ordnungsmagier waren normalerweise gut darin, Spannungen zwischen Lichtkämpfern zu unterbinden. Nach dem Tod ihres Anführers lagen die Nerven jedoch blank. Sie streiften mit gezücktem Essenzstab durch die Gänge, warfen jedem misstrauische Blicke zu und hielten sogar einzelne Magier an, um sie zu durchsuchen.

      Chloe verließ den Krankenflügel, während die Heilmagier sich auf Verwundete vorbereiteten. Hier konnte sie nichts mehr tun. Clara war in Theresas Obhut sicher. Der Rest des Castillos weniger. Sie schlug den Weg zum Krisenraum ein, wo die Unsterblichen zusammenkamen. In den Gängen begegneten ihr eifrig miteinander tuschelnde Lichtkämpfer, aber auch grimmig dreinblickende Gruppen. Obgleich es mitten in der Nacht war, hatte Gryffs Tod sowie Johannas anschließende Abriegelung des Castillos jeden hellwach werden lassen.

      Sie dachte kurz an Jen und Alex, die nun bei Nostradamus festsaßen. Da auf den Portalen Siegel lagen, konnten die beiden nicht zurückkehren. Glücklicherweise sagte man dem unsterblichen Essenzstabmacher nach, ein umgänglicher Zeitgenosse zu sein. Etwas ruppig, aber nett. Wenigstens waren sie damit außer Gefahr und über jeden Verdacht erhaben. Falls es nicht mehrere Verräter gab, waren Jen und Alex also nachweislich unschuldig.

      Aus dem Krisenraum drangen aufgeregte Stimmen an ihr Ohr.

      Johanna stand vor einer breiten vergilbten Weltkarte. Auf dieser bewegten sich kleine Lichter zielstrebig auf Sammelpunkte zu.

      »Das Team von Markus sitzt noch auf Zypern fest«, sagte Tomoe. Sie gab die unnahbare Geschäftsfrau, trug wie immer ein Businesskostüm. »Sie wollten gerade das Sprungtor benutzen, um zum nächsten Einsatzort zu wechseln.« Sie legte die Hände an die Hüften und schaute sinnierend auf die Punkte. »In wenigen Minuten erreichen sie die sichere Finca.«

      »Was ist mit der Einflussnahme auf das Parlament in Brüssel?«, fragte Einstein. Der unsterbliche Physiker machte zwar einen zerstreuten Eindruck, bewies jedoch bei jeder Frage aufs Neue seinen messerscharfen Verstand. »Wenn die Abgeordneten den Schattenkriegern nun hilflos ausgesetzt sind, könnte das die Gesetzgebung für Europa beeinflussen.«

      »Das dortige Team hat von mir die Erlaubnis erhalten, den Einsatz erst nach Abschluss der Untersuchung zu beenden und Sicherungen für die Betroffenen zurückzulassen«, unterbrach ihn Leonardo. »Wer da auch seine Hände im Spiel hat und Unruhe stiftet, sie finden ihn. Danach ziehen sie sich sofort zurück. Die Sache ist zu wichtig, als dass wir sie vorher abziehen könnten.«

      Johanna nickte bestätigend. Sie stand wie ein Fels in der Brandung neben dem runden Konferenztisch und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Pferdeschwanz wippte bei jeder Kopfbewegung auf und ab. »Gute Entscheidung. Andernfalls stehen wir nach diesem Problem vor einem gewaltigen Scherbenhaufen. Albert, überwachst du bitte den Rückzug unserer Teams?«

      »Natürlich.« Der ältere Unsterbliche mit dem weißen zerzausten Haar nickte.

      »Tomoe, behalte die Geldanlagen im Auge.« Johanna deutete auf einen Computermonitor, auf dem die Börsendaten übertragen wurden. »Wenn der dunkle Rat die Abschottung mitbekommt, könnte er handeln und uns auf dem finanziellen Parkett angreifen.«

      »Selbstverständlich.«

      »Leonardo …«

      »Ich kümmere mich um die Teams, die ihre Aufträge nicht sofort abbrechen können«, fuhr er ihr dazwischen. »Für den Fall der Fälle halten wir einen Sprungmagier bereit, der sie evakuieren kann, sollten Schattenkrieger sich sammeln.«

      »Ausgezeichnet.« Johanna hob ihre Tasse an, auf der »Best Mum ever« stand, und trank einen Schluck des geliebten Grüntees. Vermutlich rann er längst anstelle von Blut durch ihre Adern. »Ich behalte unsere Ordnungsmagier im Blick und helfe bei der Suche nach dem Mörder und der Sigilklinge.«

      Chloe räusperte sich.

      Johanna blickte in ihre Richtung. »Ah, du bist es. Gibt es Neuigkeiten?«

      »Clara liegt auf der Krankenstation. Der Tod von Gryff hat sie ziemlich mitgenommen, aber sie wird wieder. Theresa hat einen Heilschlaf eingeleitet.«

      »Gut.« In den Blicken der Unsterblichen las Chloe Mitleid und Verständnis. »Wir alle haben heute einen Freund verloren. Für Clara allerdings war er offensichtlich mehr.«

      »Stimmt.« Gedankenverloren zog sie ihren Essenzstab aus der Schlaufe am Hosenbund und ließ ihn wirbeln. »Wie können wir helfen?«

      »Finde heraus, ob jemandem aus eurem Team in den letzten Tagen etwas aufgefallen ist«, sagte Johanna. »Kevin hat mir kurz vor dem Mord mitgeteilt, dass Clara die Zeitsteine, die ich ihr und Max zum Betreten der verbotenen Katakomben gegeben hatte, behalten hat. Zumindest die Reste. Sie wurden ihr gestohlen, womit der Verräter noch einmal kurz in die verbotenen Katakomben eindringen konnte. Damit kann er jeder sein. Gryff konnte in diese Richtung nicht mehr ermitteln. Sucht nach einer Spur zu dem Dieb, irgendeinen Hinweis muss es geben.«

      Chloe nickte. Vermutlich würde Clara es sich nie verzeihen, dass sie die Steine verwahrt hatte. Nur deshalb war es dem Mörder gelungen, in die verbotenen Katakomben einzudringen und die tödliche Sigilklinge zu stehlen. »Wir geben unser Bestes.«

      Johanna stellte ihre Tasse ab. »Wer auch immer hierfür verantwortlich ist – er oder