Gesammelte Werke. Фридрих Вильгельм Ницше

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Ge­sell­schaft ver­bo­ten ist und üb­len Ruf macht: eben­so steht es mit Bü­chern, mit Mu­sik, mit Po­li­tik, mit der Schät­zung des Wei­bes.

      *

      120.

      Die Ver­na­tür­li­chung des Men­schen im 19. Jahr­hun­der­t (– das 18. Jahr­hun­dert ist das der Ele­ganz, der Fein­heit und der sen­ti­ments généreux). – Nicht »Rück­kehr zur Na­tur«: denn es gab noch nie­mals eine na­tür­li­che Mensch­heit. Die Scho­las­tik un- und wi­der-na­tür­li­cher Wert­he ist die Re­gel, ist der An­fang; zur Na­tur kommt der Mensch nach lan­gem Kamp­fe, – er kehrt nie »zu­rück« … Die Na­tur: d. h. es wa­gen, un­mo­ra­lisch zu sein wie die Na­tur.

      Wir sind grö­ber, di­rek­ter, vol­ler Iro­nie ge­gen ge­neröse Ge­füh­le, selbst wenn wir ih­nen un­ter­lie­gen.

      Na­tür­li­cher ist uns­re ers­te Ge­sell­schaft, die der Rei­chen, der Mü­ßi­gen: man macht Jagd auf ein­an­der, die Ge­schlechts­lie­be ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hin­der­niß und einen Reiz ab­giebt; man un­ter­hält sich und lebt um des Ver­gnü­gens wil­len; man schätzt die kör­per­li­chen Vor­zü­ge in ers­ter Li­nie, man ist neu­gie­rig und ge­wagt.

      Na­tür­li­cher ist uns­re Stel­lung zur Er­kennt­niß; wir ha­ben die Li­ber­ti­na­ge des Geis­tes in al­ler Un­schuld, wir has­sen die pa­the­ti­schen und hie­ra­ti­schen Ma­nie­ren, wir er­göt­zen uns am Ver­bo­tens­ten, wir wüß­ten kaum noch ein In­ter­es­se der Er­kennt­niß), wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu lang­wei­len hät­ten.

      Na­tür­li­cher ist uns­re Stel­lung zur Moral. Prin­ci­pi­en sind lä­cher­lich ge­wor­den; Nie­mand er­laubt sich ohne Iro­nie mehr von sei­ner »Pf­licht« zu re­den. Aber man schätzt eine hül­f­rei­che, wohl­wol­len­de Ge­sin­nung (– man sieht im In­stink­t die Moral und dédaignirt den Rest. Au­ßer­dem ein paar Ehren­punkts-Be­grif­fe –).

      Na­tür­li­cher ist uns­re Stel­lung in po­li­ti­cis: wir se­hen Pro­ble­me der Macht, des Quan­tums Macht ge­gen ein an­de­res Quan­tum. Wir glau­ben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durch­zu­set­zen: wir emp­fin­den alle Rech­te als Erobe­run­gen.

      Na­tür­li­cher ist uns­re Schät­zung großer Men­schen und Din­ge: wir rech­nen die Lei­den­schaft als ein Vor­recht, wir fin­den Nichts groß, wo nicht ein großes Ver­bre­chen ein­be­grif­fen ist; wir con­ci­pi­ren al­les Groß-sein als ein Sich-au­ßer­halb-stel­len in Be­zug auf Moral.

      Na­tür­li­cher ist uns­re Stel­lung zur Na­tur: wir lie­ben sie nicht mehr um ih­rer »Un­schuld«, »Ver­nunft«, »Schön­heit« wil­len, wir ha­ben sie hübsch »ver­teu­felt« und »ver­dummt«. Aber statt sie dar­um zu ver­ach­ten, füh­len wir uns seit­dem ver­wand­ter und hei­mi­scher in ihr. Sie aspir­irt nicht zur Tu­gend: wir ach­ten sie des­halb.

      Na­tür­li­cher ist uns­re Stel­lung zur Kunst: wir ver­lan­gen nicht von ihr die schö­nen Schein­lü­gen u. s. w.; es herrscht der bru­ta­le Po­si­ti­vis­mus, wel­cher con­sta­tirt, ohne sich zu er­re­gen.

      In sum­ma: es giebt An­zei­chen da­für, daß der Eu­ro­pä­er des 19. Jahr­hun­derts sich we­ni­ger sei­ner In­stink­te schämt; er hat einen gu­ten Schritt dazu ge­macht, sich ein­mal sei­ne un­be­ding­te Na­tür­lich­keit, d. h. sei­ne Un­mo­ra­li­tät ein­zu­ge­ste­hen, oh­ne Er­bit­te­rung: im Ge­gent­heil, stark ge­nug dazu, die­sen An­blick al­lein noch aus­zu­hal­ten.

      Das klingt in ge­wis­sen Ohren, wie als ob die Cor­rup­tion fort­ge­schrit­ten wäre: und ge­wiß ist, daß der Mensch sich nicht der »Na­tur« an­ge­nä­hert hat, von der Rous­seau re­det, son­dern einen Schritt wei­ter gethan hat in der Ci­vi­li­sa­ti­on, wel­che er per­hor­re­s­cir­te. Wir ha­ben uns ver­stärk­t: wir sind dem 17. Jahr­hun­dert wie­der nä­her ge­kom­men, dem Ge­schmack sei­nes En­des na­ment­lich (Dan­court, Le­sa­ge, Re­gnard).

      *

      121.

      Cul­tur con­tra Ci­vi­li­sa­tion. – Die Hö­he­punk­te der Cul­tur und der Ci­vi­li­sa­ti­on lie­gen aus­ein­an­der: man soll sich über den ab­gründ­li­chen Ant­ago­nis­mus von Cul­tur und Ci­vi­li­sa­ti­on nicht irre füh­ren las­sen. Die großen Mo­men­te der Cul­tur wa­ren im­mer, mo­ra­lisch ge­re­det, Zei­ten der Cor­rup­ti­on; und wie­der­um wa­ren die Epo­chen der ge­woll­ten und er­zwun­ge­nen Thier­zäh­mung des Men­schen (»Ci­vi­li­sa­ti­on« –) Zei­ten der Un­duld­sam­keit für die geis­tigs­ten und kühns­ten Na­tu­ren. Ci­vi­li­sa­ti­on will et­was An­de­res, als Cul­tur will: viel­leicht et­was Um­ge­kehr­tes …

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      122.

      Wo­vor ich war­ne: die dé­ca­dence-In­stink­te nicht mit der Hu­ma­ni­tät zu ver­wech­seln;

      :die auf­lö­sen­den und no­thwen­dig zur *dé­ca­dence trei­ben­den Mit­tel* der Ci­vi­li­sa­ti­on nicht mit der Cul­tur zu ver­wech­seln;

      :die Li­ber­ti­na­ge, das Prin­cip des »lais­ser al­ler«, nicht mit dem Wil­len zur Macht zu ver­wech­seln (– er ist des­sen Ge­genprin­cip).

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      123.

      Die un­er­le­dig­ten Pro­ble­me, die ich neu stel­le: das Pro­blem der Ci­vi­li­sa­ti­on, der Kampf zwi­schen Rous­seau und Vol­taire um 1760. Der Mensch wird tiefer, miß­traui­scher, »un­mo­ra­li­scher«, stär­ker, sich-selbst-ver­trau­en­der – und in­so­fern »na­tür­li­cher«: das ist »Fort­schritt«. – Da­bei le­gen sich, durch eine Art von Ar­beits­t­hei­lung, die ver­bö­ser­ten Schich­ten und die ge­mil­der­ten, ge­zähm­ten aus­ein­an­der: so­daß die Ge­sammt­t­hat­sa­che nicht ohne Wei­te­res in die Au­gen springt …

      Es ge­hört zur Stär­ke, zur Selbst­be­herr­schung und Fas­ci­na­ti­on der Stär­ke, daß die­se stär­ke­ren Schich­ten die Kunst be­sit­zen, ihre Ver­bö­se­rung als et­was Hö­he­res emp­fin­den zu ma­chen. Zu je­dem »Fort­schritt« ge­hört eine Um­deu­tung der ver­stärk­ten Ele­men­te in’s »Gute«.

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      124.

      Daß man den Men­schen den Muth zu ih­ren Na­tur­trie­ben wie­der­giebt –

      Daß man ih­rer Selb­st­un­ter­schät­zung steu­ert ( nicht der des Men­schen als In­di­vi­du­ums, son­dern der des Men­schen als Na­tur …) –

      Daß man die Ge­gen­sät­ze her­aus­nimmt aus den Din­gen, nach­dem man be­greift, daß wir sie hin­ein­ge­legt ha­ben –

      Daß man die Ge­sell­schafts-Idio­syn­kra­sie aus dem Da­sein über­haupt her­aus­nimmt (Schuld, Stra­fe, Ge­rech­tig­keit, Ehr­lich­keit, Frei­heit, Lie­be u. s. w.) –

      Fort­schritt zur »Na­tür­lich­keit«: in al­len po­li­ti­schen Fra­gen, auch im Ver­hält­niß von Par­tei­en, selbst von mer­kan­ti­len oder Ar­bei­ter- oder Un­ter­neh­mer-Par­tei­en, han­delt es sich um Macht­fra­gen – »was man kann« und erst dar­auf­hin,