Название | Die Scharia |
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Автор произведения | Christine Schirrmacher |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Kurz und bündig |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783775172110 |
Im Koran selbst besitzt der Begriff »Scharia« also noch nicht die Bedeutung eines ausgefeilten Rechtssystems. Erst im Verlauf einer längeren Entwicklung, die ungefähr mit dem 8. Jahrhundert n. Chr. beginnt und mit dem 10. Jahrhundert ihr vorläufiges Ende findet, wird der Begriff der Scharia zu einem Synonym für »Gottesrecht«.
Weil es sich um Gottes Recht handelt, wird die Scharia als vollkommene Ordnung betrachtet, die jeder Gesellschaft Frieden und Gerechtigkeit bringt, denn Gott ist ein Gott der Gerechtigkeit. Eine homogene Gesellschaft, die unter seiner vollkommenen Rechtsordnung lebt, wird als Synonym für eine friedliche Gesellschaft betrachtet. Daher kommt die Verbindung von »Islam« und »Frieden«.
Weil die Scharia von Gott selbst gegeben ist, ist sie prinzipiell nicht reformierbar oder hinterfragbar. Eine Kritik der Scharia bedeutete, menschliche Erwägungen über das Gesetz Gottes zu stellen. Dies ist auch deshalb unvernünftig und falsch, weil am Ende aller Zeiten der Islam die einzig existente Religion sein und die Scharia über alle Menschen aufgerichtet werden wird. – So zumindest der offizielle Anspruch konservativer Theologie, dem zwar auch liberale Gegenentwürfe gegenüberstehen, die aber insgesamt wenig einflussreich sind.
Da die Scharia Normen für alle Lebensbereiche enthält, gibt es neben ihr im eigentlichen Sinn keinen säkularen, von der Religion abgetrennten Bereich. Es geht nach dem Selbstverständnis der Scharia, nachdem Gott sein ewiges Gesetz einmal den Menschen offenbart hat, nicht darum, seinen Anspruch zu relativieren oder nur teilweise zu praktizieren, sondern nur darum, die angemessene Anwendung zu finden, um das Leben im Diesseits zur Vorbereitung auf das Paradies im Jenseits gottgefällig zu gestalten. Auch dies ist wiederum nicht als Überzeugung einiger orthodoxer Außenseiter zu betrachten, sondern muss als weithin anerkannte Position innerhalb der Theologie betrachtet werden, auch wenn die Lebenspraxis vieler Menschen anders aussehen mag. Die Scharia gilt als weltliches wie sakrales Recht, ein in seinem Ursprung göttliches Recht, das in seinem Anspruch aber nicht nur den religiösen, sondern auch den weltlichen Bereich reglementiert.
Die Zugehörigkeit zum Islam mit einer fundamentalen Kritik an der Scharia zu verbinden, ist zum einen deshalb problematisch, weil es zumindest in den islamischen Kernländern keine wirkliche Religions- und Meinungsfreiheit gibt, also auch keine kritische öffentliche Diskussion über die Berechtigung des ganzheitlichen Anspruchs der islamischen Religion und ihrer Vertreter. Zum anderen schafft auch die Verknüpfung von Recht und Religion praktische Probleme in Bezug auf eine kritische Reflexion des Anspruchs der Scharia, denn »sich zu dieser Religion bekennen, ohne das Gesetz in seiner Gänze zu bejahen und als unbezweifelbaren und stets gültigen Maßstab für jegliches Tun und Lassen zu befolgen, ist unmöglich; denn das Gesetz ist ein wesentlicher Teil der islamischen Heilsbotschaft.«6
Aus welchen Quellen heraus entstand die Scharia?
Trotz dieses Generalanspruchs der Scharia, alle Lebensbereiche eines Menschen reglementieren zu wollen, darf nicht angenommen werden, es handele sich bei der Scharia um ein kodifiziertes Gesetzbuch, vergleichbar etwa mit dem »Bürgerlichen Gesetzbuch«. Es ist vielmehr ein Regelwerk, das auf mehreren Quellen basiert, die interpretierbar sind und nirgends je in einem einzigen Werk zusammengefasst wurden.
Konkret basiert die Scharia basiert auf drei Quellen: dem Koran, der Überlieferung (d. h. den Erzählungen über Muhammad und seine Gefährten) sowie den weitgehend als normativ anerkannten Auslegungen frühislamischer Juristen und Theologen, insbesondere bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. Bis zu diesem Zeitpunkt bildeten sich im sunnitischen Bereich vier verschiedene »Rechtsschulen« – Rechtstraditionen – heraus (die hanbalitische, hanafitische, malikitische und schafiitische Schule) sowie mindestens eine schiitische7 Schule. Allerdings bewegen sich die Abweichungen voneinander – zumindest im sunnitischen Bereich – in einem sehr beschränkten Rahmen, sodass die Lehrunterschiede zwischen den Rechtsschulen nicht wirklich fundamental sind.
Die erste Quelle der Scharia ist der Koran; alle seine rechtlichen Regelungen sind Bestandteil der Scharia. Allerdings ist der Koran nicht in erster Linie ein Gesetzbuch, denn nur rund 10 % seines Textes befassen sich überhaupt mit Rechtsfragen. Außerdem werden viele Themen nur bruchstückhaft, keine der Rechtsfragen aber systematisch und erschöpfend abgehandelt. Es handelt sich vor allem um Fallbeispiele, was auch leicht erklärlich ist, wenn man voraussetzt, dass der Koran in gewissem Maß die Rechtsentscheidungen Muhammads in seiner ersten Gemeinde verzeichnet.
Zu einigen Rechtsfragen, wie z. B. dem Vermögensrecht, macht der Koran nur wenige Angaben, zu anderen Rechtsbereichen, wie dem Ehe- und Familienrecht, nimmt er häufiger und konkreter Stellung. Ein Familienrecht, das allein auf den koranischen Bestimmungen basiert, könnte jedoch aufgrund der knappen Ausführungen dennoch nicht formuliert werden.
Die zweite Quelle der Scharia ist die islamische Überlieferung, der »hadith« (arab. Überlieferung, Tradition, Bericht), »eine Art von Kommentar und Ergänzung des Koran«8. Darunter sind vor allem Berichte von und über Muhammad, seine Familie und seine Prophetengefährten zu verstehen, die in einigem Abstand von Muhammads Tod gesammelt und schriftlich niedergelegt wurden. Neben Berichten über Ereignisse aus Muhammads Zeiten enthält die Überlieferung zahlreiche Detailanweisungen zur Religionsausübung und behandelt eine Reihe von Rechtsfragen. Dieser Umstand ist mit Sicherheit Folge des Auftretens konkreter Rechtsfälle, die an Muhammad und nach seinem Tod an seine Nachfolger herangetragen wurden.
Während muslimische Gläubige in Bezug auf den nichtrechtlichen Bereich der Überlieferung lediglich aufgefordert sind, Muhammads »Gewohnheit« (arab. »sunna«) und sein Vorbild so weit wie möglich nachzuahmen, ist die Befolgung der rechtlichen Bestimmungen der Überlieferung unbedingte Pflicht. Wenn daher die Überlieferung berichtet, Muhammad habe einen Bart getragen, dann gilt dies als »sunna« (nachzuahmende Gewohnheit) für Männer, um Muhammads Vorbild nachzueifern, denn der Gläubige zeigt damit seine »Liebe zum Propheten«9. Wer es jedoch nicht tut, macht sich keiner Straftat und keiner Sünde schuldig, denn es geht nicht um ein Gesetz oder eine rechtsverbindliche Vorschrift.
Anders liegen die Dinge in Rechtsfragen: Wo die Überlieferung zu Rechtsfragen konkret Stellung bezieht (z. B. zum Scheidungsrecht), hat sie ebenso große Autorität wie der Korantext selbst, ja soll sogar nach überwiegender Auffassung diesem vorgezogen werden, sofern sie anderslautende, gewichtige Aussagen macht. So vertrat z. B. der sicher bedeutendste muslimische Jurist der islamischen Frühzeit, der »Vater der islamischen Rechtswissenschaft«10, ash-Shafi‘i (767–820 n. Chr.), dass der Koran durch die Überlieferung ausgelegt werde (nicht umgekehrt!).11 Ash-Shafi‘i betrachtete die Rechtsurteile Muhammads – die zahlenmäßig häufiger in der Überlieferung niedergelegt sind – als göttlich inspiriert und daher für alle Zeit bindend für die islamische Gemeinschaft.12 Da zudem einzelne Berichte der Überlieferung im Alltag häufiger tradiert werden und als Kulturgut insgesamt besser bekannt sind als der in seiner spezifischen Sprache oft nicht leicht verständliche Korantext, besitzt die Überlieferung in der Praxis