Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский

Читать онлайн.



Скачать книгу

noch in Folie den Zeitungsfetzen bei sich, worin die Befreiung dreier russischer Bürger vermeldet wird, darunter auch Beljajew, Wadim Sergejewitsch, geb. 1972 im Dorf Strelezkoje, Gebiet Astrachan.

      Mit diesem Papier bereiste Wadja das ganze Land, angefangen in Mineralnyje Wody. Dort erklärte er Touristen am Bahnhof, er wäre hier zur Kur, bisschen Heilwasser trinken, mit einem Ferienscheck vom Rehabilitationsprogramm für Armeeangehörige, um sechs Uhr früh aus dem Zug gestiegen, aufs Klo gegangen, und plötzlich – paff! – mit dem Schlagring eins auf den Hinterkopf; er wär wach geworden – alles weg: Brieftasche, Jacke, Schuhe; jetzt würde er in ausrangierten Waggons herumlungern, die Bullen kennen kein Erbarmen, schlimm ist das.

      Nun denn, die Touristen schmieren den Schaffner, stecken ihnen noch ein paar Kröten zu, führen Wanja zum Zugrestaurant, spendieren Speis und Trank und stellen verlegen Fragen über seine Gefangenschaft. Wadja trinkt, isst was hinterher, wie es sich gehört, und berichtet mit Bedacht.

      So reiste er kreuz und quer durchs Land, tauchte ein ins Leben der Endbahnhöfe, schlief und hauste in dazu umfunktionierten Eisenbahnwaggons voller Menschen, für die der Weg zum Zuhause geworden war – bis er Nadja begegnete.

      Nadja tauchte in Toksowo* auf, wo man ihn aus dem Zug geworfen hatte. Der Zug war gerade erst aus dem Bahnhof gerollt, Wadja klopfte sich kurz den Dreck ab und lief zurück, einen Schlafplatz suchen.

      Der Bahnhofsvorsteher hetzte die Bullen auf ihn: »Soso, du hast also deinen Zug verpasst? Ich verpass dir auch gleich eine. Kapiert?«

      Er bekam leichte Prügel, am nächsten Morgen lief er dann durch die verlassene Stadt, die ganz krumm und schief war, vorbei an alten Datschen mit durchgerosteten Dächern, warf einen Blick hinter die Zäune, drehte sich immer wieder um und prägte sich den Rückweg zum Bahnhof ein. Über eine gebrochene Zaunlatte kletterte er in einen verwilderten Garten, kroch auf den Knien herum und sammelte honigfarben schimmernde Antonowka-Äpfel.

      Die Sonne stand am Himmel, verschwamm in einem Nebelschleier, der sich von der Erde losgerissen hatte.

      Die Apfelbäume standen bis zur Brust im Dunst. Am anderen Ende des Gartens stapfte ein altes weißes Pferd schlaftrunken auf einen dumpf zu Boden gefallenen Apfel zu. Zerkaute ihn krachend und wieherte.

      Wadja schauderte, blickte um sich und machte sich erneut über das Fallobst her.

      So aß er sich an den Äpfeln satt. Biss an einer weichen, angedetschten Stelle hinein und labte sich an dem Saft, am stumpfsauren Speichel. Dann roch er einfach nur daran, sog immer wieder den Duft ein, der sich nicht erschöpfte, und der Apfel erschien ihm unendlich kostbar.

      Diesen Apfel aß er nicht auf, sondern steckte ihn in die Tasche. Er würde ihn später im Bahnhof auf die Fensterbank legen, im Warteraum. Wadja hatte so eine Angewohnheit: An einem hübschen Plätzchen etwas zu essen zu hinterlassen – das war seine Art zu teilen. Mit wem? Ob mit Gott oder mit den Menschen – er wusste es nicht, aber er teilte, so gehörte es sich.

      Da tauchte Nadja auf. Der Apfelbaum war ihr Revier. Jeden Morgen kam sie hierher, sammelte die besten Früchte auf und trug sie zum Markt.

      Nadja kam angerannt und schubste ihn. Er kippte zur Seite. Dann kniete sie sich ins dichte, feuchte Gras und sammelte auf allen Vieren[27] flink ihre Früchte ein, wischte mit dem Handrücken die Nacktschnecken ab und stapelte die Äpfel zu kleinen Haufen.

      Wadja konnte nicht mithalten, er setzte sich zu einem der Häufchen und suchte sich die weicheren Äpfel aus, das waren ihm die liebsten. Nadja kam angekrabbelt und klopfte ihm auf die Schulter.

      »Schnorrer! Ein Schnorrer bist du.« Sie lachte.

      In Sankt Petersburg verkauften sie zwei Beutel Äpfel.

      Dann ging es mit Vorortzügen nach Moskau.

      Nadja

      IX

      Nadja war beinahe stumm. Es fiel ihr derart schwer, ihr Inneres auszudrücken, dass sie vor lauter Qual den Kiefer immer stärker zusammenpresste und manchmal plötzlich mit den Händen losfuchtelte: Vielleicht wollte sie etwas zeigen, vielleicht dem Gesprächspartner etwas einbimsen[28], was für sie selbst so klar und wichtig war. Es kam vor, dass Wadja dabei wirklich eine abkriegte, und das tat dann richtig weh. Nadja, nur noch mehr außer sich, lief ein Stück, atmete schwer, trat von einem Bein aufs andere, als würde sie es eilig haben wegzukommen, und blieb dann plötzlich stehen, fuchtelte mit den Armen und bewegte schnell gestikulierend die Finger.

      Was Wadjas Lebensweg bestimmt und unwillkürlich Nadjas Herz erobert hatte, war seine Liebe zu Wladimir Wyssozki* und Viktor Zoi*. Fast alle Lieder des Ersten (Wadja nannte ihn kumpelhaft Semjonytsch) kannte er seit seiner Kindheit, von den Aufnahmen, die er, einen tragbaren Kassettenrekorder der Marke Wesna auf der Schulter, mit den anderen Jungs gehört hatte. Die Musik von Zoi hatte Wadjas Berufsschulzeit aufgehellt.

      Die Lieder von Wyssozki sang er nicht, er brummte sie. Brummte sie in der Gefangenschaft und auch, als er schon mit Nadja ging. Insbesondere mit ihr. Er tat es selten, genierte sich. Im Park oder auf dem Bahnhof entfernte er sich immer ein Stück, hinter die Büsche, ans äußerste Ende des Bahnsteigs, wo er dann, als wollte er Geister beschwören, einfach losbrummte, ohne bestimmte Tonfolge, aber dann sang er sich ein, sein voller Bariton gewann an Kraft und Tiefe, und heraus kam weniger eine Melodie als ein rezitatives Muster, das mit dem bekannten Lied gar nichts zu tun hatte, es aber auf einmal von einer anderen Seite zeigte, auf ganz andere Art seine durchdringende Dramatik offenbarte, als würde die Bedeutung der Worte bloßgelegt, die nunmehr ihres melodischen Schmiermittels beraubt waren.

      Es war erstaunlich, wie aus Wadjas unbeholfener Interpretation eine regelrechte Neuinszenierung dieses Liedes wurde. Nadja wusste das zu würdigen und lauschte mit offenem Mund.

      Danach klopfte sie ihm auf den Rücken und sagte:

      »Du Künstler!«

      Doch er ließ sie nicht gleich an sich heran, auch sang er niemals, wenn sie ihn darum bat – da winkte er ab, wurde wütend, schnauzte sie an und ging für sein Gebrumme ein Stück von ihr weg, weil er sich schämte oder weil es für ihn eine Art heiliger Akt war. Und erst später, wenn er sich in das meditative Singen der großen Dichterworte versenkt hatte, wenn er seine Wachsamkeit eingebüßt und sich mit halbgeschlossenen Augen hingesetzt hatte – erst dann schlich sie sich zu ihm hin und erstarrte hingerissen. »Das Segel! Das Segel ist gerissen!«, sang er beispielsweise, »Parus! Porvali parus!«, wobei er nahezu jede Silbe einzeln hervorstieß, mit überraschenden Eskapaden, und es war unbegreiflich, woher er die Luft nahm.

      X

      Die Lieder von Viktor Zoi hingegen sang er nie, nicht ein einziges Mal. Aber sie gingen oft zur Zoi-Mauer am Alten Arbat* und hörten sie sich an. An dieser mit Gedenkminiaturen vollgekritzelten Backsteinmauer versammelte sich die umherziehende Jugend aus nahezu allen Ecken des Landes. Die jungen Leute waren freundlich, manche von ihnen sogar beseelt. Es bestand immer die Chance, dass sie einem etwas zu trinken ausgaben – solange man nicht frech wurde, sondern sich nützlich machte und freundschaftlich verhielt.

      Im Sommer ging es an der Mauer lustig zu: Aus dem ganzen Land zogen die Leute Richtung Süden, ans Meer, und Moskau war der Umschlagplatz. In der Ferienzeit trieb sich die Zoi-Gemeinde größtenteils auf der Krim herum, wo sie auf den Tatarenmärkten zu Füßen der Urlauber auf der Gitarre klimperten und im Takt dazu Metallbecher mit Münzen schwenkten. Welcher seelische Schneesturm diese jungen Leute von einer Stadt in die andere trieb – per Anhalter von Ufa nach Petersburg, von Petersburg nach Moskau, von Moskau nach Nowosibirsk –, war unklar. Wadja dachte gar nicht darüber nach. So wie man nicht über seine Gliedmaßen als einzelne Teile nachdenkt. In seiner Vorstellung war das ganze Land unterwegs, schwärmte aus, streunte umher – und nur Moskau schwoll an in seiner Immobilität, durch etwas Mächtiges, das im feindlichen Gegensatz zur Natur stand, über die er zwar auch nichts wusste, aber aus irgendeinem Grund war es für ihn stimmiger und daher angenehmer über sie nachzudenken als über die Menschen.

      Es gab nicht wenige junge Leute, die für Wochen, gar Monate mit Gitarre und



<p>27</p>

auf allen Vieren – на четвереньках

<p>28</p>

j-m etwas einbimsen (разг.)  вдалбливать кому-либо что-либо, заставлять кого-либо выучить что-либо