Plötzlich schwang die Tür zu Richards Büro auf, was Emily aus den Gedanken riss, die sie so sehr eingenommen hatten. Richard stand im Türrahmen, während eine zierliche, blonde Frau in ein Taschentuch schniefte. Sie erinnerte Emily sofort an Sheila und auf einmal brachen Schuldgefühle über sie herein.
Emily konnte Richards geflüsterte Worte nicht verstehen, doch sie vernahm seinen beruhigenden Ton. Dann verabschiedete er sich von der Frau, die sich an ihnen vorbeischob und hastig zur Tür hinaus verschwand.
Sobald sie davongegangen war, wandte sich Richard an Emily und Daniel. „Bitte, kommt herein.“
„Geht es ihr gut?“, fragte Emily, während sie ihm in sein Büro folgten.
Sie sorgte sich um die Frau, die er gerade hinausbegleitet hatte, aber gleichzeitig hatten ihre Tränen auch Emilys Neugier geweckt. Vielleicht stand sie kurz davor, einen ähnlichen Rechtsstreit zu beginnen wie sie und Daniel, oder vielleicht gehörte sie zur Gegenseite und ihr wurde gerade das Sorgerecht entzogen. War das fair? Hatte sie etwas getan, wie beispielsweise Drogen genommen oder ihr Kind vernachlässigt, um so etwas zu verdienen? Gab es überhaupt jemanden, der so etwas verdiente?
Doch dann kam ihr Chantelle wieder in den Sinn. Nein, es war nicht fair. Aber hier ging es nicht darum, ob etwas fair war, sondern darum, ob es richtig war.
„Ich kann leider nicht darüber sprechen“, antwortete Richard, womit er Emilys wilden Gedankengängen ein Ende setzte. Dann ließ er sich auf seinem großen Ledersessel nieder und rückte die Hosenbeine seines eleganten, grauen Anzugs zurecht. „Ich habe all meinen Klienten gegenüber die gleiche Verschwiegenheitspflicht. Ich hoffe, du verstehst das.“
Das seltsame, unwohle Gefühl, das Emily zuvor verspürt hatte, kehrte bei dem Wort abrupt zurück. Klient. Es erinnerte sie daran, wie erst diese Angelegenheit doch war. Sie bezahlten für dieses Treffen, für Richards Wissen und seine Zeit. Auf einmal war alles so formell geworden. Emily fragte sich, ob sie wohl besser einen Anzug hätte anziehen sollen.
Daniel schien sich neben ihr genauso unwohl zu fühlen. Das erkannte sie an der Art, wie er andauernd mit den Knöpfen seines Hemdes spielte. Sie beide befanden sich in Richards elegantem Büro weit außerhalb ihrer Komfortzone.
Richard setzte seine Brille ab und sah von ihrer Akte auf. „Also, es gibt hier zwei Optionen, über die wir sprechen müssen. Es liegt eigentlich nur an der Wortwahl, aber genau diese führt zu entscheidenden Unterschieden der beiden Kurse, die wir einschlagen können.“
„Und die wären…?“, fragte Emily nach.
„Vormundschaft oder Adoption“, erklärte Richard. „Die Vormundschaft würde im Grunde eine rechtliche Beziehung zwischen Chantelle und Emily etablieren, aber Sheilas rechtliche Beziehung zu ihrem Kind nicht beenden. Auf der anderen Seite würden Sheilas Rechte und Pflichten Chantelle gegenüber durch eine Adoption ungültig und Emily stattdessen als ihre Mutter angesehen werden. In anderen Worten wäre sie ein Ersatz für Sheila auf allen rechtlichen Ebenen. Eine Adoption dient dazu, ein dauerhaftes und stabiles Zuhause zu schaffen, deshalb müssten wir Sheila dazu bringen, ihre Rechte über Chantelle aufzugeben und zu verstehen, dass diese Entscheidung unumkehrbar ist.“
Emily nickte und ließ seine Worte auf sich wirken. Sie dachte an Chantelle, die ihr in ihrem Zimmer das Versprechen abnehmen wollte, dass Sheila nie wieder zurückkommt.
„Chantelle will keine Beziehung zu ihrer Mutter“, erklärte Emily.
„Aber eine Vormundschaft wäre viel einfacher zu bekommen“, widersprach Richard, während er seine Hände auf dem Schreibtisch faltete. „Wenn Sheila nicht dazu bereit ist, ihre Rechte Chantelle gegenüber aufzugeben, was euren Erzählungen nach wahrscheinlich ist, dann müssen wir beweisen, dass es Chantelle bei euch nicht nur bessergeht, sondern, dass Sheila nicht in der Lage ist, sich um sie zu kümmern, und dass jeder Kontakt mit der Mutter dem Kind schaden würde.“
„Sie hat mir immer wieder gesagt, dass sie mich als ihre wirkliche Mutter möchte“, sagte Emily. „Dass sie Sheila nie wieder sehen will.“
Daniel schien die ganze Sache unwohl zu sein. „Ich denke nicht, dass es richtig wäre, Sheila komplett abzuschneiden.“
Richard hörte ihnen stumm zu. „Es geht nicht um Besuchsrechte oder ähnliches. Wenn du Chantelles rechtliche Mutter wirst, dann liegt die Entscheidung, ob sie Sheila jemals wiedersieht, bei dir. Außer, ihr wollt eine einstweilige Verfügung gegen sie erwirken. Es geht hier nur um die Rechtmäßigkeit, darum, wer die Entscheidungen über ihr Wohlergehen trifft.“
Das fühlte sich zu klinisch an. Wie konnten das Leben und das Wohl eines Kindes als bloße Rechtmäßigkeit gelten? Sie redeten gerade über ihr Herz. Sie konnte ihre Emotionen nicht trennen. Das war schlichtweg unmöglich.
Emily berührte Daniels Hand sanft.
„Es muss eine vollständige Adoption sein“, erklärte sie. „Ansonsten könnte Sheila sie uns irgendwann wegnehmen. Chantelle wacht bei der Vorstellung daran nachts weinend auf. Sie hat mich immer wieder gebeten, sie vor Sheila zu beschützen. Sie hat mich gefragt, ob ich ihre Mutter sein kann. Ich weiß, dass sie gerade einmal sieben Jahre alt ist, aber das Mädchen ist alt genug, um selber zu denken.“
Daniel gab mit einem einzigen, traurigen Nicken nach. Er tat Emily leid, doch gleichzeitig war sie sich sicher, dass dies die richtige Entscheidung für Chantelle sein würde.
„Wir möchten eine Adoption“, bestätigte Daniel.
Richard nickte. „In jedem Staat gibt es ein anderes Vorgehen“, erklärte er. „Aber hier in Maine müssen wir gegen Sheila einen Antrag auf Verzicht stellen. Das Gericht wird ihr die Unterlagen zuschicken, dann hat sie ein Recht auf Beratung. Es wird eine Art Vermittlungstreffen vor dem Familienrichter geben mit dem Ziel, zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Schließlich wird ein Gerichtstermin anberaumt, an dem der Richter seine Entscheidung treffen wird. Natürlich wird alles viel einfacher verlaufen, wenn Sheila ihre Einwilligung gibt. Wenn sie Einspruch einreicht, dauert alles länger und es wird eine Abrisshörung, ein Anhörungsverfahren, eine gerichtliche Prüfung und schließlich eine finale Anhörung geben.“
„Wie viel wird das Kosten?“, wollte Daniel wissen.
„Schon etwas“, meinte Richard. „Aber nicht so viel, wie du vielleicht denkst. Wir reden hier von etwa zweihundert Dollar pro Treffen, also insgesamt weniger als eintausend Dollar.“
Eintausend Dollar. Das würde reichen, um Chantelle zu ihrer Tochter zu machen. Eintausend Dollar plus Wochen und Monate nervlicher Belastung.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим