Название | Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen |
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Автор произведения | Helena Olfert |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Language Development |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823301707 |
2 Spracherhalt und Sprachverlust in der Migrationssituation
2.1 Spracherhalt und Sprachprestige
Spracherhalt und Sprachverlust im Kontext von Migration sind untrennbar mit gesellschaftlichen Strukturen verbunden. Will man also der Frage nachgehen, weshalb manche Sprachen in der Migrationssituation aufgegeben werden, während andere noch über Generationen hinweg gesprochen werden, erweist sich die Betrachtung sozialer Machtverhältnisse und historisch gewachsener Habitualisierungen als unerlässlich. Oftmals entscheiden sie darüber, welche Sprachen als nützlich und wertvoll angesehen werden, welche es sich zu lernen und zu erhalten lohnt und welche wiederum eine überflüssige Bürde darstellen, die es möglichst hinter sich zu lassen gilt. Dieser sozial konstruierte Bewertungsmaßstab für Sprachen kann aufgrund seiner symbolisch-hierarchischen Machtfunktion derart hohen Druck auf einen Sprecher aufbauen, dass dieser, rationaler Denkweise folgend, sich gegen das Festhalten an vermeintlichen sprachlichen Altlasten und für ein scheinbar schnelleres Vorankommen ohne eine nicht prestigeträchtige Sprache entscheidet bzw. sich zu dieser Entscheidung gedrängt sieht (vgl. Fishman 1991).
Wird Einsprachigkeit in der Mehrheitssprache gesellschaftlich als der natürliche Zustand angesehen, so bedarf der Erhalt einer Minderheitensprache seitens eines Individuums umso mehr Aufwand hinsichtlich Energie, Zeit und Rechtfertigung, da ihm eine entsprechende Unterstützung in Form von staatlich etablierten Strukturen und gesellschaftlicher Anerkennung nicht zur Verfügung steht (vgl. Herdina & Jessner 2002). Im Gegensatz dazu ist Unterstützung für die gesellschaftlich legitime Mehrheitssprache sichergestellt, da sie auf dem „sprachlichen Markt“ als Ressource fungiert, die in ökonomisches Kapital umgewandelt werden kann und somit sozialen Aufstieg und Bildungserfolg erst ermöglicht (vgl. Bourdieu 1991). Als Folge habitualisierter Bewertungsmechanismen zum einen und der Betrachtungsweise von Mehrsprachigkeit als nur einer Übergangsphase zum anderen können sich Individuen in der Migrationssituation dazu gezwungen sehen, ihre mitgebrachten Sprachen aufzugeben.
Der gesellschaftlich festgelegte Marktwert von Sprachen ist omnipräsent und lässt sich mittels eines hierarchisch geordneten Modells von De Swaan mit einem Kern und einer Peripherie beschreiben (vgl. De Swaan 2001; s. Abbildung 1). Die Position der jeweiligen Sprache in dem Modell symbolisiert gleichsam ihren kommunikativen Wert und ihr Prestige. So befinden sich nach der Analyse von De Swaan ca. 98 % aller derzeit weltweit gesprochenen Sprachen in der Peripherie des globalen Sprachsystems. Obwohl hierunter mehrere tausend Sprachen fallen, werden sie von nur ca. 10 % der Bevölkerung in sehr kleinen Sprechergruppen verwendet. In Abgrenzung zu den im Zentrum des Modells positionierten Sprachen werden periphere Sprachen ausschließlich über negative Attribute beschrieben: Sie verfügen über keinen schriftsprachlichen Ausbau, sind keine National- oder Amtssprachen und werden weder als Mutter- noch als Fremdsprachen unterrichtet. Ihre Sprecher sind zudem aufgrund der geringen Größe der eigenen Sprachgemeinschaft zu Kommunikationszwecken auf Kenntnisse anderer Sprachen angewiesen, sei es anderer ebenfalls peripherer Sprachen oder aber Sprachen mit einem höheren Kommunikationswert.
Struktur des globalen Sprachsystems nach De Swaan (2001), eigene Darstellung
Als zentrale Sprachen betrachtet De Swaan (2001: 4f.) ungefähr 100 Sprachen, die von etwa 95 % der Bevölkerung gesprochen werden. Diese Sprachen zeichnen sich durch eine Kodifizierung aus, d.h., sie verfügen über einen verbindlichen Standard. Dies ermöglicht wiederum ihre Einrichtung als Nationalsprachen, ihre Unterrichtung sowie ihre Verwendung in Medien, Verwaltung und Justiz. Sprecher zentraler Sprachen können monolingual sein, da ihre Sprache über genügend Kommunikationswert in ihrem Nationalstaat verfügt.
Superzentrale Sprachen erfüllen über die Funktionen als Staatssprachen hinaus weitere Aufgaben und gestatten u.a. internationale Kommunikation. Zu diesen Sprachen zählt De Swaan Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Hindi, Japanisch, Malaiisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch und Swahili (vgl. ebd.: 5). Bis auf Swahili haben sie mehr als 100 Millionen Sprecher, die meisten fanden weltweite oder übernationale Verbreitung vor allem durch Kolonialisierung und Besetzung. Heutzutage dominieren sie nach wie vor das öffentliche Leben in den entsprechenden Staaten und schreiben somit die historisch gewachsenen sprachlichen Machtkonstellationen fort. Sie finden sich in höheren Bildungsinstitutionen, in der Wissenschaft, Politik, Technologie und Administration. Superzentrale Sprachen bilden ferner die typischerweise schulisch vermittelten Fremdsprachen in anderen Staaten.
Im Zentrum des gesamten Systems steht allerdings Englisch, das als hyperzentrale Sprache, als Lingua Franca, eine globale Kommunikation ermöglicht und in der Lage ist, Sprecher anderer Sprachen miteinander zu verbinden. Dies macht Englisch momentan zur Sprache mit dem größten Prestige weltweit.
Die hierarchische Anordnung von Sprachen hat einen starken Einfluss auf das Lernen von Sprachen, das stets zentripetal funktioniert, also von der Peripherie ins Zentrum, was zu einer steten Verfestigung dieser sprachlichen Hegemonie führt (vgl. De Swaan 2001: 5). Je zentraler sich eine Sprache im System befindet, desto mehr Sprecher (als Erst- oder Zweitsprache; L1 bzw. L2) lassen sich mit ihr erreichen, desto höher ist ihr Kommunikationswert und desto größer ihr Prestige. Das bedeutet, je höher das Prestige einer Sprache in der globalen Rangordnung ist, umso mehr wird ein Sprecher bereit sein, Zeit, Energie sowie monetäre oder andere Ressourcen in ihr Erlernen zu investieren.
Diese Prägung bzw. Überlagerung von Sprachlernentscheidungen durch Sprachprestige lässt sich mit einigen Modifikationen auf die Migrationssituation übertragen. In einem konkreten Kontext haben Migrantensprachen in der Diaspora wie Minderheitensprachen per se einen geringeren Kommunikationswert als die offizielle Nationalsprache des jeweiligen Staates. Belegt eine Minderheitensprache zusätzlich hierzu generell nur einen unteren Rang in dem globalen Sprachprestigegefüge und wurde sie auch im Herkunftsland der Sprecher als peripher angesehen, so sind der Wunsch und das Bestreben nach ihrem Erhalt in der Migrationssituation sogar für die Sprecher selbst nur schwer über rationale oder ökonomische Argumente zu begründen. Der Druck zu ihrer Aufgabe ist gesellschaftlich umso größer. Sprachverlust verläuft also in diesem Modell ebenfalls von außen nach innen, sodass diejenigen Sprachen am schnellsten und am häufigsten aufgegeben werden, die sich in der Peripherie befinden.
Das Modell von De Swaan (2001) zeigt zudem, dass Sprachprestige keine natürlich gewachsene Rangordnung von Sprachen ist, die auf objektiven Kriterien o.ä. basiert. Vielmehr ist Sprachprestige gesellschaftlichen Umbrüchen, sozialen Ordnungen sowie historischen Entwicklungen geschuldet und über längere Zeitperioden entstanden. Es ist eng verknüpft mit ökonomischen Vorteilen für die Sprecher und mit ihrer Positionierung im sozialen Raum, weshalb es nicht losgelöst von diesen Faktoren betrachtet werden kann (vgl. ebd.: 6). Sprachprestige durchzieht darüber hinaus die Bildungspolitik und äußert sich über die zentripetale Lernrichtung in gesetzlichen Bestimmungen europäischer Sprachenpolitik, in institutionell etablierten und geförderten Fremdsprachen sowie in den Einstellungen der Bevölkerung bestimmten Sprachen gegenüber.
Die Eurobarometer-Umfrage zu den in der EU gesprochenen Sprachen stellte beispielsweise fest, dass die offiziellen europäischen Bemühungen um eine m+2-Sprachenpolitik1 sich in erster Linie in einem Ausbau der Englischkenntnisse, also der hyperzentralen Sprache, niederschlagen (vgl. Europäische Kommission 2012). Diese Dominanz des Englischen reflektierend betitelt De Swaan das Kapitel zu europäischen Sprachverhältnissen in seiner Arbeit auch passenderweise mit „The European Union – The more languages, the more English“ (vgl. De Swaan 2001). Nach wie vor stellt Englisch gefolgt von Französisch und Deutsch die am häufigsten gelernte europäische Fremdsprache dar (vgl. Europäische Kommission 2012: 7). Zwei Drittel der europäischen Bürgerinnen und Bürger sind davon überzeugt, dass Englisch nach ihrer Landessprache die wichtigste Sprache sei (vgl. ebd.: 8). Minderheitensprachen – ob autochthone oder allochthone – werden in der Umfrage nicht thematisiert, was erneut ihre Stellung in der Peripherie der öffentlichen Wahrnehmung unterstreicht.
Eine repräsentative Umfrage zu Sprachprestige im deutschen Kontext, die auch Minderheitensprachen