Informationsorganisation und makrostrukturelle Planung in Erzählungen. Silvia Natale

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(Kapitel 2.1.). Es folgen Ausführungen zur Struktur (Kapitel 2.2.) im Hinblick auf ihre Komponenten und zu den Funktionen (Kapitel 2.3), die die Textsorte Erzählung erfüllt. Das Kapitel bietet ferner einen Ausblick auf die kognitiven Leistungen (Kapitel 2.4.), die sich beim Erzählen vollziehen.

      2.2. Definition der Textsorte »Erzählung«

      Erzählungen stellen seit jeher eine wesentliche Grundform von Kommunikation dar und prägen die Menschheitsgeschichte seit ihren Anfängen. Barthes und Duisit (1975) schreiben hierzu:

      Narrative starts with the very history of mankind; there is not, there has never been anywhere, any people without narrative.

      Erzählungen stellen somit eine Form des sprachlichen Handelns dar, das als international, transhistorisch und transkulturell zu betrachten ist. Jede Form der menschlichen Gemeinschaft wird geprägt von Geschichten, die in verschiedenen Arten wiedergegeben und tradiert werden (vgl. Chroniken, Bildergeschichten, Volkserzählungen, Interviews, Romane usw.) (Barthes & Duisit: 1975).

      Erzählen repräsentiert eine Schlüsselkompetenz in der menschlichen Kommunikation. Das Erschaffen und Interpretieren einer erzählten Welt (vgl. den Begriff story world von Herman 2009) kommt nicht nur beim ausgewiesenen Erzählen zum Tragen, sondern auch in Situationen, in denen Menschen versuchen, unorganisierte Ereignisse zu strukturieren. Erzählen stellt somit ein ordnendes Prinzip dar, das eine sinnstiftende Funktion hat.

      Die Definition von Erzählung von Labov und Waletzky (1967: 28), die bis heute als zentral erachtet wird, beruht im Sinne der strukturierenden Funktion von Erzählungen auf der temporalen Verbindung (»temporal junction«) zwischen zwei Äusserungen wie beispielsweise in I shot and killed him. Labov und Waletzky (1967: 20) definieren eine Erzählung folglich als »one method of recapitulating past experience by matching a verbal sequence of clauses to the sequence of events which actually occurred« (zum Ansatz von Labov und Waletzky siehe Kapitel 2.3.; für die strukturierende Funktion siehe Kapitel 2.4.).

      Es erstaunt daher nicht, dass aufgrund des breitgefächerten Anwendungsbereichs gleich in mehreren Disziplinen ein wissenschaftliches Interesse an dieser Textsorte besteht (Literaturwissenschaft, Sozialanthropologie, verschiedene Teilbereiche der Sprachwissenschaft, Politik, Rechtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Psychologie und vor allem Kognitionswissenschaft ). Mit der Begrifflichkeit des narrative turn (Fisher 1984, Fludernik 2005) wird in dieser Hinsicht die Zuwendung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zur Textsorte Erzählung deutlich. Erzähltheoretische Ansätze werden interdisziplinär angewandt, um diese universale Kommunikationsform als Analysegrundlage zu nutzen (beispielsweise in der Psychotherapie im Hinblick auf das Erzählen der Lebensgeschichte für diagnostische Zwecke oder im Rechtswesen in Bezug auf Zeugenaussagen).

      Die mit dem narrative turn verbundenen Entwicklungen verknüpfen mit der Erzählung folglich nicht nur eine Form der Kunstproduktion, die im Blickfeld der Narratologie steht, sondern beschreiben diese Textsorte als »grundlegendes Verfahren des Menschen, der Welt und dem eigenen Dasein Sinn abzugewinnen, indem Ereignisse in zeitliche und kausale Zusammenhänge eingebunden werden und so Kohärenz erzeugt wird« (Heinen 2007:1). Besonders die Kognitionswissenschaft widmet der Textsorte Erzählung in diesem Hinblick besondere Aufmerksamkeit, um das »world making« und somit menschliche Denkweisen zu ermitteln (Bruner 1986).

      Die Nutzbarmachung der Erzählung für verschiedene Disziplinen impliziert, dass ihre Definitionskriterien je nach Forschungsrichtung unterschiedliche Akzentuierungen aufweisen (Gülich & Hausendorf 2000). Bei der Übertragung von erzähltheoretischen Paradigmen in andere Disziplinen, verwässern jedoch erzähltheoretische Definitionen, wie Narratologen bedauern. Gleichzeitig werden Narratologen vor die Herausforderung gestellt, die Anwendbarkeit von erzähltheoretischen Grundlagen in nicht-narratologische Kontexte sicherzustellen (Fludernik 2005). Die Erarbeitung von Definitionskriterien, die verschiedenen Ansätzen gerecht werden, gestaltet sich daher als herausfordernd. Auch aufgrund der Vielzahl von Erzählarten in ihren verschiedenen narrativen Darstellungsformen (mündlich vs. schriftlich, literarisch vs. alltagssprachlich sowie je nach Gattung und Textsorte) wird die Erarbeitung von Definitionskriterien erschwert (Gülich & Hausendorf 2000). Eine Definition kann daher nur auf einer abstrakten Ebene erfolgen, da Präzisierungen nur auf bestimmte, jedoch niemals auf alle Formen des Erzählens zutreffen (Gülich & Hausendorf 2000).

      Ryan (2007) versucht die Heterogenität der Definitionskriterien zu systematisieren und fasst sie unter drei semantischen und einer formal-pragmatischen Dimension zusammen.

      Zu den semantischen Dimensionen der Erzählung gehören die räumliche, die zeitliche und die mentale Dimension. Räumlich bedeutet, dass die Erzählung in einer Welt angesiedelt ist, die von ausgewiesenen Handlungsträgern (individuated existents) besiedelt ist. Zeitlich heisst, dass die erzählte Welt in einer bestimmten Zeit verankert ist, in der sich signifikante Veränderungen vollziehen. Als sogenannte rekursive Gattung (Luckmann 1986) spezifiziert die Erzählung, dass die Darstellung des Ablaufs realer oder fiktiver Ereignisse in Bezug auf den Erzählzeitpunkt zurückliegt (Gülich 2000). Veränderungen in der erzählten Welt werden dabei von physikalischen Ereignissen verursacht, die nicht habituell sind (non-habitual physical events). Mental bezeichnet, dass einige der Handlungsträger, die die Ereignisse verursachen, intelligent Handelnde (intelligent agents) sind und somit über Geist und Emotionen verfügen. Einige dieser Ereignisse müssen willentlich von den Handelnden ausgeführt werden.

      In Bezug auf die formal-pragmatischen Dimensionen führt Ryan aus, dass die Ereignissequenz eine geschlossene Kette bilden muss, die zu einem Abschluss führt. Mindestens eines der erzählten Ereignisse muss als ausgewiesene Tatsache in der Erzählwelt gelten. Die Erzählung als solche muss eine für die Hörerschaft sinnstiftende Mitteilung kommunizieren.

      2.3. Zur Struktur von Erzählungen

      Erzählungen lassen sich in verschiedene Komponenten aufteilen, deren Organisation hierarchisch strukturiert ist. Von der Organisation der Komponenten lassen sich bestimmte narrative Strukturen ableiten, die für die Erzählung typisch sind. Die Struktur von Erzählungen wird hier aufgrund dreier Grundlagen skizziert:

      1 Gesamtstruktur von Erzählungen

      2 Strukturierende Elemente innerhalb der Erzählung

      3 Struktur der Erzählung als Ergebnis einer Textplanung

      In Bezug auf die Gesamtstruktur von Erzählungen hat sich im Bereich der textlinguistischen Fragestellungen der Ansatz des narrativen Schemas (narrative schema) von Labov & Waletzky etabliert (vgl. den Band von Bamberg 1997, der sich mit der Nachhaltigkeit dieses Ansatzes in der Forschung auseinandersetzt). Die grundlegende Studie von Labov & Waletzky (1967) verdeutlicht einerseits, dass mündliche Erzählungen, wie oben ausgeführt, temporal aufgebaut sind, da sie durch die Verknüpfung von Ereignissen eine temporale Sequenz bilden (vgl. I shot and killed him). Andererseits werden funktionale Einheiten bestimmt, aus denen sich Ereignisse zusammensetzen. Für mündliche Erzählungen stellen Labov und Waletzky fest, dass ihre Komponenten häufig in einer bestimmten Anordnung organisiert werden.

       Abstract (abstract)

       Orientierung (orientation)

       Komplikation (complication)

       Evaluation (evaluation)

       Auflösung (resolution)

       Coda (coda)

      Im Abstract, das nicht zwingend vorhanden ist, wird ein Gesamtüberblick über den Inhalt der Erzählung angegeben. In der Phase der Orientierung werden Angaben zu Personen, Ort, Zeit und Handlungssituation gemacht, die an der dargestellten Ereignissequenz beteiligt sind (Komplikation). Die Komplikation enthält folglich einen Verweis auf eine Ereigniskette, die schliesslich in der Evaluation reflektiert wird.