4.3.5 Haben Geschlechterstereotype Auswirkungen auf die GenuszuweisungGenuszuweisung?
Für die umgekehrte Richtung – Geschlechterstereotype führen zu entsprechenden Genuszuweisungen – liefern Köpcke/Zubin (1984) überraschende Evidenz. Das Substantiv Mut ist (und war immer) ein Maskulinum. Normalerweise gilt bei Komposita (und Derivata) das Letztglied- oder Kopf-rechts-Prinzip, wonach das letzte Morphem das Genus der gesamten Wortbildung bestimmt: das Haus – die Tür → die Haustür. Deshalb sollte anzunehmen sein, dass Wortbildungen mit dem Zweitglied -mut allesamt maskulin sind. Dies ist bei Unmut, Übermut etc. auch der Fall, nicht aber bei die Anmut, die Weh- und die Demut. Köpcke/Zubin (1984) haben solche sog. Affektbegriffe auf -mut zusammengestellt: Manche sind feminin, manche maskulin, und manche schwanken, z.B. die/der Großmut, die/der Gleichmut (Tab. 4-4). Genusinstabilität betrifft durchaus auch solche Komposita, die hier den Maskulina bzw. Feminina zugeordnet wurden, denn die Wörterbücher liefern oft uneindeutige Hinweise (mehr in Köpcke/Zubin 1984, 38).
Maskulina | Feminina |
extravertiert („offensiv, abweisend, eigennützig“); aktiv, wild, groß, laut etc. | introvertiert („fügsam, aufnehmend, selbstlos“); passiv, sanft, klein, leise etc. |
Lebensmut | Anmut |
Übermut | Wehmut |
Wagemut | Demut |
Hochmut | Sanftmut |
Unmut | Schwermut |
Missmut | Langmut |
Großmut, Gleichmut etc. |
Tab. 4-4: Genus- und semantische Unterschiede bei mut-Komposita nach Köpcke/Zubin (1984)
Bei diesen Genusdifferenzen (die nur zwischen Feminina und Maskulina bestehen, Neutra gibt es nicht) sehen die Autoren Genderstereotype am Werk, die sie grob mit (männlich assoziierter) Extraversion und (weiblich assoziierter) Introversion etikettieren. Auch das weitere Affektlexikon und dessen Genuszugehörigkeit sehen Köpcke/Zubin (1984) „entlang der Opposition Introversion/Extroversion [sic]“ (40) gegliedert wie die Furcht, Angst, Scheu, Scham, Trauer vs. der Hohn, Wille, Ärger, Eifer, Geiz. Die heutigen Feminina Gunst, Pein, Qual und Reue konnten im Mhd. noch maskulin sein und haben ihr Genus somit der Affektqualität angepasst: „Insgesamt lassen sich bei ca. 25 % der femininen Nomen der Introversionsgruppe und bei ca. 35 % der maskulinen Nomen der Extroversionsgruppe [sic] integrative historische Veränderungen in die eine oder andere der beschriebenen Richtungen feststellen“ (42). Selbstverständlich gibt es auch Gegenbeispiele.
Was die femininen mut-Bildungen betrifft, so gehen allerdings Paul (1917/1968) zufolge die meisten nicht direkt auf Mut zurück:
Kein Übertritt aus dem M. ins F. liegt vor in den anscheinenden Zus[ammen]s[etzungen] mit Mut wie Demut. Im Ahd. gibt es ein Adj. deomuoti = mhd. diemüete ‚demütig‘, daraus wird ein Substantiv abgeleitet, ahd. deomuoti F. = mhd. diemüete, […] woraus dann durch Verkürzung und Anlehnung an Mut unser Demut entstanden ist. Außer deomuoti bestanden im Ahd. noch andere ähnlich gebildete Adjektiva, aus denen dann entsprechende weibliche Substantiva abgeleitet wurden. Neben diesen standen wirkliche Zus[ammen]s[etzungen] mit muot als Maskulina. Nach längeren Schwankungen hat sich jetzt teils das F., teils das M. festgesetzt, vgl. einerseits Anmut, Großm., Langm., Schwerm., Wehm., anderseits Edelmut, Freim., Gleichm., Hochm., Kleinm., Überm., Unm., Wankelm. (Paul 1917/1968, § 62)
Historisch liegen also (nicht-lautgesetzlich) apokopierte Abstraktbildungen vor (vgl. heute noch unapokopierte Bildungen wie Süße, Länge, Größe), die an maskulines Mut angelehnt wurden und dadurch eine starke analogische Beeinflussung mit entsprechender Form-, aber ohne Genusänderung erfahren haben. Regulär müssten sie heute auf -müte (z.B. Demüte) enden. Ob die Genera immer noch so stabil sind wie bei zu Pauls Zeiten bzw. welch starken Genusschwankungen sie heute unterworfen sind, dieser gesamte Komplex lohnt im Rahmen einer größeren Untersuchung vertieft zu werden. Dabei wären sowohl die aktuellen Genusschwankungen korpusbasiert zu überprüfen als auch (um den evt. Einfluss von Genderstereotypen zu ermitteln) die historischen der letzten Jahrhunderte und auch Jahrzehnte, denn die in Tab. 4-4 genannten Geschlechterstereotype dürften heute deutlich abgeschwächt (degenderisiert) sein. Falls sich die Beobachtungen von Köpcke/Zubin (1984) bestätigen, bestünde Evidenz dafür, dass außersprachliche Geschlechterstereotype grammatische Genera steuern oder zumindest beeinflussen können.
4.3.6 Genus-Sexus-Devianzen beim Menschen als Reflexe von Gender
In der internationalen Genusforschung haben die Neutra MädchenMädchen und WeibWeib als sog. hybrid nounshybrid einige Berühmtheit erlangt. Obwohl MädchenMädchen immerhin ein Diminutivsuffix enthält (Mäd- hat allerdings synchron kein lexikalisches Korrelat, diachron leitet es sich aus Magd ab), wird es ebenfalls darunter gefasst. Mit hybrid noun ist gemeint, dass es bei bestimmten (genusmarkierenden) Begleit- oder Kongruenzwörtern zu GenuskonfliktenGenuskonflikt zwischen Neutrum und Femininum kommen kann: Die Genus-Sexus-RegelGenus-Sexus-Prinzip, die bei MädchenMädchen und WeibWeib eigentlich das Femininum erfordert, ist so wirkmächtig, dass Kongruenzwörter (targets), die in größerem Abstand (linearer Distanz) zum genushaltigen Nomen (controller) stehen, vom grammatischen Neutrum ins semantisch erwartbare Femininum umschlagen. Die in WeibWeib und MädchenMädchen enthaltene Information ‚weiblich‘ dominiert über das grammatische Neutrum. Je näher umgekehrt das Begleitwort am Nomen steht, desto obligatorischer das grammatische Neutrum. Innerhalb der NP (d.h. an Artikel und Adjektiv) kommt nur das grammatische Neutrum zum Zug (ein großes MädchenMädchen, ein großes WeibWeib), während schon ein Relativpronomen (das MädchenMädchen, die ich liebte kommt, wenngleich selten, vor) bzw. noch eher ein Possessiv- oder Personalpronomen semantische und damit feminine Kongruenz herstellen kann (s. eingehend Fleischer 2012; Birkenes et al. 2014). Hierzu s. Abb. 4-4, die Nübling et al. (2013, 157) entnommen ist.
Abb. 4-4: Die GenuskongruenzhierarchieGenuskongruenzhierarchie nach Corbett (1991), ans Deutsche